Im Jahr 2022 hat es in Bremen 3122 polizeilich registrierte Gewalttaten gegeben. Jedes der Opfer hätte die Möglichkeit gehabt, einen Antrag auf staatliche Entschädigungsleistungen zu stellen. Theoretisch. Wie es in der Praxis aussah, verdeutlicht die Opferschutzorganisation Weißer Ring mit weiteren Zahlen: 178 der 3122 Opfer stellten einen Antrag. Behördlich bewilligt wurden 29.
In Bremen wurden damit so wenige Anträge wie nie in den vergangenen fünf Jahren gestellt und davon die meisten auch noch abgelehnt, konstatiert Hans-Jürgen Zacharias, Landesvorsitzender des Weißen Rings. Mit etwa 21 Prozent Leistungsanerkennungen sei Bremen bundesweit das Schlusslicht. Im Schnitt würden in Deutschland 26 Prozent dieser Anträge anerkannt.
Das Sozialressort bestätigt die vom Weißen Ring genannten Zahlen für Bremen. In den vergangenen fünf Jahren haben sich jährlich im Schnitt 197 Menschen mit einem Entschädigungsantrag an das Amt für Versorgung und Integration Bremen (AVIB) gewandt, sagt Nina Willborn, Sprecherin der Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration, Claudia Schilling (SPD). Hauptsächlich seien diese Anträge wegen Körperverletzungsdelikten, Raubdelikten oder Straftaten gegen das Leben gestellt worden. Hinzu kämen verschiedene Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.
Die Zahlen für 2023 liegen noch nicht vor, doch in den Jahren davor lag die Zahl der Ablehnungen jeweils deutlich höher als die der Anerkennungen. 2021 standen den 63 Anerkennungen 124 Ablehnungen gegenüber, 2022 lautete das Verhältnis 29 zu 75. Hauptursache für die hohe Ablehnungsquote ist laut Behörde die oft nicht einfach zu erfüllende Verpflichtung der Antragsteller, einen Nachweis für die Gewalttat zu erbringen.
Hohe Ablehnungsquote in Stadtstaaten
Dass nur so wenige Opfer von Gewaltkriminalität einen Antrag auf Entschädigung stellen, sei aber kein Bremer Phänomen, erläutert Willborn. Dies sei im gesamten Bundesgebiet so. Warum es in Bremen höhere Ablehnungs- beziehungsweise niedrigere Anerkennungsquoten gibt als in anderen Bundesländern, lasse sich nicht erklären. Vermutet werde, dass dafür die Situation in Stadtstaaten eine Rolle spielt. Im Zehnjahresvergleich habe Bremen eine nahezu identische Ablehnungsquote wie Hamburg und Berlin.
Entscheidend verbessern könnte sich die Situation der Opfer durch eine gesetzliche Änderung. Seit Jahresbeginn 2024 erfolgt die staatliche Opferentschädigung nach dem neuen Sozialgesetzbuch XIV und nicht mehr auf Grundlage des Opferentschädigungsgesetzes und des Bundesversorgungsgesetzes, erläutert Hans-Jürgen Zacharias. „Diese Neuregelung bringt einige bemerkenswerte Verbesserungen für Betroffene mit sich.“ So können jetzt zum Beispiel auch Entschädigungsansprüche nach schweren psychischen Gewalttaten geltend gemacht werden. Und neben Leistungen für unmittelbare Gewaltopfer gibt es jetzt auch Ansprüche für traumatisierte Zeugen schwerer Gewalttaten.
Zudem können zur Unterstützung der Opfer auch sogenannte Schnelle Hilfen, Trauma-Ambulanzen sowie ein Fallmanagementsystem in Anspruch genommen werden. „Die Fallmanager sollen Gewaltopfer durch das Antrags- und Leistungsverfahren leiten und so dazu beitragen, dass Ansprüche schneller und unkomplizierter geltend gemacht werden können“, sagt Zacharias. In den neuen Regelungen seien eine Reihe langjähriger Forderungen des Weißen Rings erfüllt. „Insgesamt ein großer Schritt in die richtige Richtung.“
Allerdings müssten die neuen Regelungen nun auch umgesetzt werden, betont der Landesvorsitzende des Weißen Rings. Und entscheidend sei dabei, wie schnell die einzelnen Anträge bearbeitet würden. Nicht von ungefähr lautete die Kernkritik des Weißen Rings am bisherigen Verfahren, dass die Bearbeitung der Fälle oft viel zu lange dauere. Nicht selten zögen Betroffene deshalb ihre Anträge zurück. „Die geben irgendwann einfach auf.“ Was dann in der Statistik nicht als Ablehnung zähle, sondern als „sonstige Erledigung“. Zudem, so Zacharias weiter, „hatten wir manchmal das Gefühl, dass eher auf Ablehnung als auf Anerkennung geprüft wurde“.
Dass bislang nur so wenige Anträge gestellt werden, betrachtet auch Claudia Schilling als Problem. „Dies gilt es aus meiner Sicht zu verbessern.“ Zur Forderung nach der schnelleren Bearbeitung der Fälle kann die Sozialsenatorin auf die bereits erfolgte personelle Aufstockung der zuständigen Behörde verweisen. Was der Weiße Ring lobt. Hans-Jürgen Zacharias: „Die gezielten personellen und organisatorischen Maßnahmen sowie Fortbildungen im Amt für Versorgung und Integration Bremen sind absolut anerkennenswert.“