Wer bei einem medizinischen Notfall die 112 wählt, benötigt in der Regel schnelle Hilfe. In der Stadt Bremen gehen diese Notrufe in der Leitstelle der Feuerwehr und des Rettungsdienstes ein. Die Disponenten fragen nach der Art des Notfalls, schicken Rettungskräfte und Notärzte auf den Weg und lotsen am Telefon durch Erste-Hilfe-Maßnahmen. Jetzt setzen die Retter selbst einen Notruf ab.
„Immer häufiger werden die Kolleginnen und Kollegen in der Leitstelle verbal attackiert, beleidigt, beschimpft, angeschrien und sogar persönlich bedroht. So massiv, dass sie teilweise ihre Arbeit ruhen lassen müssen. Einige haben aus diesen Gründen ihre Arbeit in der Leitstelle aufgegeben“, sagt Michael Richartz, Sprecher der Bremer Feuerwehr. „In den vergangenen vier Wochen haben wir sechs solcher Fälle wegen Beleidigung, Bedrohung und Nötigung zur Anzeige gebracht.“
In einem Fall sei ein Leitstellen-Mitarbeiter mehrfach als "Bastard" und "Hurensohn" angeschrien worden, der Anrufer habe wiederholt gedroht "Ich weiß, wo Du wohnst", "Ich f**** deine Mutter und deine Schwester" – und "Ich bringe Dich um". Gleich zu Beginn des Gesprächs habe er einen Rettungswagen mit Blaulicht zu einer Adresse gefordert. "Um einen potenziellen medizinischen Notfall einschätzen zu können, müssen die Disponenten gezielte Fragen stellen", erklärt Richartz. Dies geschieht als standardisierte Notrufabfrage mithilfe einer Software. Die Abfrage führt zum Einsatz des passenden Rettungsmittels, zu Erste-Hilfe-Anleitungen oder auch – handelt es sich nicht um einen Notfall – zum Hinweis auf den ärztlichen Bereitschaftsdienst oder einen Arztbesuch. Der beschriebene Fall sei kein Notfall gewesen. Die Polizei sei zu der Adresse gefahren und Anzeige erstattet worden.
Die Zahl der Rettungseinsätze steigt seit Jahren, laut Richartz wird sie Ende 2022 mit schätzungsweise über 80.000 einen neuen Rekord erreichen – über 20.000 mehr als vor zehn Jahren. Auch bei den 112-Notrufen werde es mit geschätzt 177.000 einen neuen Höchststand geben. Der größte Teil entfalle auf den Rettungsdienst, wobei es sich in vielen Fällen nicht um echte Notfälle handele.
"Die Schwelle sinkt", bestätigt Andreas Callies, ärztliche Leiter des Rettungsdienstes der Stadt Bremen. "Wir sprechen hier nicht von Situationen, in denen jemand nachvollziehbar aufgeregt ist, weil man in Sorge ist. Wir sprechen von Attacken gegen Menschen, die helfen. Das ist nicht akzeptabel."
Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) verurteilt die Übergriffe: „Große Nervosität, Aufregung oder dass Anrufer in ihrer Panik laut werden – all das ist in Notsituationen menschlich –, aber alles Verständnis hört für mich da auf, wo Notrufsprecher verbal aggressiv angegangen oder gar bedroht werden. Solche Vorfälle werden konsequent angezeigt“, sagt er. Der Ton in der Gesellschaft sei rauer geworden. „Auch die Anspruchshaltung an Rettungs- und Sicherheitskräfte hat sich in Teilen der Bevölkerung verändert, was unter anderem zu stetig steigenden Notrufzahlen führt“, betont Mäurer.
Dies schlägt sich auch in Kliniken nieder: „Tatsächlich hat die Aggressivität gegenüber den Mitarbeitenden der Notaufnahme auch bei uns deutlich zugenommen“, sagt Karen Matiszick, Sprecherin der Gesundheit Nord, die am Klinikum Mitte Bremens größte Notaufnahme betreibt. „Wir müssen erleben, dass sie sowohl verbal als auch körperlich angegriffen werden. Sie werden angeschrien, bedroht, beschimpft oder sogar verletzt.“ Verbale Attacken kämen mehrfach pro Woche vor, körperliche Angriffe mehrfach im Monat. Das Klinikum habe einen Sicherheitsdienst beauftragt und für die Notaufnahme gebe es ein besonderes Sicherheitskonzept.
Das Deutsche Rote Kreuz hat 2019 insgesamt 425 Rettungskräfte befragt: Sie berichteten im Zeitraum von zwölf Monaten mindestens über eine Gewaltanwendung. 40,3 Prozent waren von verbaler Gewalt betroffen, etwa ein Drittel von verbalen und körperlichen Übergriffen. Ausschließlich tätliche Übergriffe wurden von 14,1 Prozent genannt. Bei Attacken gegen Rettungskräfte, Feuerwehrleute, Polizistinnen und Polizisten drohen bis zu fünf Jahre Haft.
Seit 2017 gibt es in der Bremer Rettungsdienst- und Feuerwehrleitstelle ein Melderegister für „Gewalt gegen Einsatzkräfte“, die Zahlen sind jährlich gestiegen: von fünf über neun, zehn, elf, 13 und 17 bis Ende August dieses Jahres. „Es ist davon auszugehen, dass nicht jeder Fall gemeldet wird. Die Zahlen dürften aber deutlich höher liegen“, so Richartz.