Maja bellt zur Begrüßung, als der Besuch in die Wohnung tritt. „Maja passt auf Heim und Frauchen auf“, sagt Steffi, das Frauchen. Maja, ein Schäferhund-Berner-Sennen-Mix, hat das so gelernt. Denn sie und Steffi haben im vergangenen halben Jahr auf der Straße gelebt. Jetzt muss sich Maja erst einmal daran gewöhnen, nicht jedes Mal Gefahr zu wittern, wenn sich ihnen ein Unbekannter nähert. Seit drei Wochen haben Maja und Steffi, die ihren vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, wieder eine feste Wohnung.
Steffi, 59, lebt jetzt im Viertel auf 30 Quadratmetern. Großes Wohn- und Schlafzimmer, Laminat auf dem Fußboden, kleine Küche, WC mit Badewanne und Balkon zur Straße hinaus. Mit ein paar Blumen, Büchern, einer Couch und einem Schreibtisch hat sie ihr neues Reich eingerichtet. Maja, die jetzt nicht mehr bellt, hat es sich auf einer ausgebreiteten Decke auf dem großen Bett bequem gemacht.
Dass Steffi ein eigenes Zimmer hat, liegt an zwei Frauen, die sich bis dahin gar nicht kannten. Hannah Beering arbeitet ehrenamtlich für den Verein Wohnungshilfe. Ursula Baumann besitzt mehrere Wohnungen. Als Baumann erfuhr, dass Beering eine Wohnung für eine obdachlose Frau suchte, sagte sie schnell ja. „Warum denn nicht?“, fragt die ältere Dame, die ebenfalls im Viertel wohnt. Viele Mieter schrecken davor zurück, Wohnungen an Obdachlose zu vermieten. Baumann winkt ab. „Ach, wir sind doch alle nicht perfekt“, sagt sie, „aber von Mietern erwarten wir, dass sie ohne Fehl und Tadel sein sollen. Warum?“

Hannah Beering sucht in Bremen Wohnungen für Obdachlose.
Wenn es nach Hannah Beering geht, dürfte es viel mehr Menschen geben, die so ticken wie Ursula Baumann. Um die 600 Menschen leben in Bremen nach Schätzungen des Sozialressorts auf der Straße. Und auch wenn es keine Daten dazu gibt: Experten stellen fest, dass die Zahl junger Menschen ohne Dach über dem Kopf stark angestiegen ist. Ursula Baumann sagt: „Jeder von uns kann in die Bredouille geraten.“
Wie schnell das gehen kann, hat Steffi erlebt. „58 Jahre lang habe ich ein ganz ,normales‘ Leben geführt“, sagt sie, „mit Job, mit Auto, mit Wohnung.“ Dann sorgt eine Fußverletzung dafür, dass sie nicht mehr arbeiten kann. Zunächst läuft alles wie gewohnt weiter. „Die Bankkarte funktionierte, ich habe meine Miete gezahlt“, sagt sie. Bis auf einmal der Dispo erschöpft ist. Erst jetzt stellt sie fest, dass sie monatelang kein Krankengeld bekommen hat.
Nach und nach trudeln die Briefe ein. Erst Rechnungen, später Mahnungen, Schreiben von Behörden, von der Krankenkasse. „Ich habe sie irgendwann nicht mehr geöffnet“, sagt sie. Die Schulden wachsen, und dann steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Sie hat noch Zeit, ihre Möbel in einem Container zu lagern. „Und dann stand ich mit Maja und meinen Taschen auf der Straße“, sagt Steffi. Im vergangenen Juli war das.
Anfangs helfen Freunde und Nachbarn im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sie sammeln Geld, damit Steffi zwei Nächte in einer günstigen Pension schlafen kann. Sie gehen mit ihr zur Frauenunterkunft in der Abbentorstraße. Dort könnte sie einziehen, wegen Corona auch länger als eigentlich üblich. Aber dafür müsste sie sich von Maja trennen, wenigstens über Nacht. Das aber kommt für Steffi nicht infrage. „Der Hund ist meine Familie“, sagt sie, „bevor ich ihn ins Tierheim gebe, lebe ich lieber auf der Straße.“
13 Mal wird sie in den folgenden Monaten umziehen. Mal kommt sie für kurze Zeit bei Bekannten unter, mal findet sie Unterschlupf in einer Kleingartenparzelle. Manchmal richtet sie sich auch in Hauseingängen ein, manchmal legt sie sich in die Nähe eines wärmenden Lüftungsschachtes. Einmal, es ist bitterkalt, lässt sie ein Hausmeister heimlich im Heizungskeller übernachten.
Ohne feste Wohnung zu sein, macht Steffi fertig. „An manchen Tagen war die Verzweiflung sehr groß“, sagt sie. „Ich weiß noch, dass ich eines Tages auf einer Parkbank gesessen und gedacht habe: Jetzt bringst du dich um. Aber das ging ja nicht. Was wäre aus Maja geworden? Ich kann sie ja nicht auch umbringen.“
Ein paar Mal hat sie versucht, auf eigene Faust eine Wohnung zu finden. Hat im Internet auf den einschlägigen Foren gepostet: Frau mit Hund sucht kleine Wohnung. Von ihrer Obdachlosigkeit hat sie nichts geschrieben. „Dann hätte ich von vorneherein keine Chance gehabt“, glaubt sie. Aber selbst so kam es zu keinem Besichtigungstermin.
Ursula Baumann, die Vermieterin, stimmt es nachdenklich, wenn sie so etwas hört. „Es heißt ja immer, der Markt regle alles“, sagt sie, „aber das stimmt ja nicht. Der Wohnungsmarkt sorgt dafür, dass Menschen in Not geraten. Es gibt so viele Vermieter, die den Hals nicht voll genug bekommen können.“ Hannah Beering hat ein paar aktuelle Mietangebote ausgedruckt. 30 Quadratmeter in Bahnhofsnähe, 720 Euro inklusiver aller Nebenkosten, Heizung und Strom. Oder 65 Quadratmeter in der Neustadt, alles in allem 970 Euro. „Wer soll das bezahlen?“
Auf Steffis Schreibtisch liegt immer noch ein Stapel Briefe. Auch sie ungeöffnet. Sie habe sich vorgenommen, die Post demnächst zu bearbeiten, sagt sie. Hannah Beering hat versprochen, ihr dabei zu helfen. Im Moment, sagt Steffi, sei sie noch dabei, in ihrem neuen Leben anzukommen. Langsam erst finde sie zur Ruhe.
Jede Sekunde merkt sie hier, in ihrer eigenen Wohnung, wie wichtig es ist, ein Dach über dem Kopf zu haben und eine Tür, die man hinter sich schließen kann. „Drei Dinge habe ich gelernt in der Zeit, in der ich ohne Wohnung war", sagt sie, "das Allerwichtigste ist Wärme. Dann kommt ein eigenes WC und schließlich ein Herd, auf dem ich mein Essen kochen kann." Sie schaut sich um in ihrer Wohnung. „Ich habe Glück gehabt“, sagt sie.
Wer Kontakt zum Bremer Housing-First-Projekt aufnehmen möchte, um beispielsweise eine Wohnung zur Verfügung zu stellen, kann sich telefonisch beim Träger melden unter 0421/27 87 27 0 oder via E-Mail an info@wohnungshilfe-bremen.de