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Nachkriegsküche, Teil 1: Karin Winckelmann „Ragout fin bekam ich nicht runter“

In unserer Reihe "Nachkriegsküche" erklärt Karin Winckelmann von Brot, das seine besten Tage längst hinter sich hatte.
20.07.2017, 00:00 Uhr
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Von Maren Brandstätter

Schwachhausen. „Das kann man abkratzen, da fehlt sonst nichts dran“ – wenn Mutter Winckelmann diesen Appell aussprach, ging es meist um Brot, das seine besten Tage längst hinter sich hatte.

Auch 70 Jahre später hat Tochter Karin diese Worte noch genau im Ohr. Weggeworfen wurde in der Schwachhauser Familie in den mageren Jahren nach dem Krieg nichts. Dabei ging es Karin, ihren beiden Geschwistern und den Eltern damals noch vergleichsweise gut. Das oft überschaubare Angebot beim Kaufmann traf die Familie des Stoffgroßhändlers Winckelmann weit weniger als manche andere. „Das lag an seiner Landkundschaft, zu der er regelmäßig mit seinem Borgward Hansa fuhr“, erzählt Karin Winckelmann. Die wohlhabenden Bauern bezahlten ihre Waren meist in Naturalien, sodass bei Winckelmanns sogar regelmäßig Huhn aufgetischt werden konnte. „Frikassee gab es oft“, erinnert sich Karin Winckelmann.

Weit öfter gab es freilich einfache Suppen und Eintöpfe – meist auf Basis von Hülsenfrüchten oder Kohl. „Saure Linsen, die mochte ich gerne“, schwärmt die Fremdsprachenkorrespondentin. „Die Brühe wurde mit Sandknochen angesetzt.“ Keine Selbstverständlichkeit zu jener Zeit, weiß sie.

Wer die Geschwister Winckelmann nach ihrem Lieblingsessen fragte, bekam „Würmchen“ zur Antwort. Was einen beim Gedanken an die improvisationsträchtige Zeit kurz erschauern lässt, war nichts anderes als in Stücke gebrochene Maccheroni, die mit Speck und Zwiebeln gebraten wurden. „Die aßen wir für unser Leben gern“, erzählt Karin Winckelmann.

Wichtiger als der Hauptgang allerdings war für die Geschwister stets die Nachspeise. So lautete die Standard-Frage vor jeder Mahlzeit nicht „Was gibt es heute?“, sondern „Was gibt es hinterher?“. Pudding stand bei den Kindern besonders hoch im Kurs, erzählt Winckelmann. Vorzugsweise mit halbierten Erdbeeren, wenn sie gerade Saison hatten. Gab es kein frisches Obst, holte ihre Mutter eine Flasche eingemachten Saft aus dem Keller. Das galt auch für Milchreis, der nach dem Aufkochen in eine Decke gewickelt unters Federbett geschoben wurde und dort langsam aber sicher gar zog. Das sparte nicht nur Energie, „man konnte auch sicher sein, dass er nicht anbrennt“. Neben Eintöpfen und Desserts verstand sich Mutter Winckelmann auch auf Pfannkuchen – sehr zur Freude ihrer Kinder. „Am liebsten hatte ich sie mit Apfelspalten oder mit Bickbeeren“, sagt sie und erklärt den Unterschied zur heute gängigen Kulturheidelbeere: „Sie sind viel kleiner und färben alles im Nu blau.“ Den Spaß am Esstisch könne man sich wohl vorstellen, „wenn sich alle mit ihren blau gefärbten Schnuten anguckten“.

Was in Winckelmanns Speisekammer, im Keller, lagerte, war für damalige Zeiten ebenso wenig selbstverständlich, wie auch die Art der Aufbewahrung selbst. „Wir hatten einen Kühlschrank“, erzählt Winckelmann. Dieser sei von den elektrischen Hochleistungsmodellen, wie sie heute in den Küchen Bremens stünden, allerdings meilenweit entfernt gewesen. „Alle paar Tage kam Herr Huxmann mit dicken Eisstangen vorgefahren“, erinnert sie sich. Eine davon habe er mühsam geschultert und in den Keller verfrachtet, wo sie zerkleinert wurde und die Eisbrocken dann in den Kühlschrank gepackt wurden. „Das war schon sehr modern für diese Zeit“, betont Winckelmann. Und während Huxmann im Keller mit dem Zerteilen seiner kostbaren Ware beschäftigt war, umringten die Kinder seinen Wagen, an dem zahlreiche Eiszapfen hingen. „Die brachen wir uns ab, lutschten daran und waren selig“, erzählt Winckelmann.

An Speisen, die sie nicht gerne gegessen hat, kann sie sich kaum erinnern. Freilich zählte die Schulspeisung nicht gerade zu den kulinarischen Höhepunkten jener Zeit, sagt sie. Akute Appetitlosigkeit habe sich bei ihr aber eigentlich nur dann eingestellt, wenn es Milchsuppe gab. Und das habe weniger am flüssigen Bestandteil, sondern vielmehr an den Klüten gelegen, die in der Suppe schwammen. Karin Winckelmann schüttelt es noch heute beim Gedanken daran. „Das waren kleine pappige Mehlklumpen – fürchterlich!“ Das zweite Gericht, das die Winckelmann-Kinder allesamt nicht ausstehen konnten, fand sich zu jener Zeit sicherlich nur selten auf dem Speiseplan anderer Familien: Ragout fin im Blätterteig-Pastetchen. „Es sah aus wie ausgekotzt, und gerochen hat es auch nicht gut“, beschreibt Winckelmann die verhasste Vorspeise. Die kam freilich auch bei Winckelmanns nur an hohen Feiertagen auf den Tisch, wurde von den Kindern aber konsequent boykottiert – nicht ahnend, was sie da Exklusives vor sich auf den Tellern hatten. „Unsere Mutter pflegte dann zu sagen, wir seien ,schön dumm’, aber ich bekam es wirklich nicht hinunter“, beteuert Karin Winckelmann.

Was auf den Tisch kommt, wird gegessen – dieser Satz fiel, wie in fast jedem Haushalt sonst, auch bei Winckelmanns regelmäßig. Die Eltern gingen mit gutem Beispiel voran, und die drei Geschwister aßen, was auf den Tisch kam. Immer ausgenommen: Ragout fin. Einmal jedoch, erinnert sich Karin Winckelmann, gab es auch für ihre Mutter einen Moment der Kapitulation. Die Familie machte Ferien auf Juist, im Sommer 1948 war das. Wie zu dieser Zeit üblich, brachte man sich seine Verpflegung von zuhause mit, wenn man sie nicht schon vorausgeschickt hatte. So auch Winckelmanns. „Da kam es natürlich schnell vor, dass die Sachen alt oder schlecht wurden“, erzählt Winckelmann. „Und einmal schwammen dann tatsächlich Mehlwürmer in unserer Brühe.“ Ihre Mutter habe zunächst versucht, Contenance zu bewahren. „Davon geht man nicht tot“, habe sie betont, doch gleich darauf „Aber...ach, Kinners, nee!“ ausgerufen.

Eine große Rolle im kulinarischen Sinne spielten die amerikanischen Besatzer für die Kinder im Schwachhausen der Nachkriegszeit. Karin Winckelmann bekommt noch heute leuchtende Augen wenn sie von „Schuingam“ erzählt, dem kindlichen Laut­sprach-Begriff für das heiß begehrte Kaugummi. Eine Weihnachtsfeier bei den Amis ist ihr noch in lebhafter Erinnerung. Es gab Schokolade, Drops, Feigen und Cola für die Schulkinder. „Und Apfelsinen! So etwas haben wir damals zum ersten Mal gesehen – und wie das roch...“, schwärmt sie. Entsprechend unbeholfen hätten sich manche Kinder dem neuartigen Genuss genähert. „Ein Mädchen biss sofort hinein und warf die Apfelsine daraufhin weinend weg“, erzählt Winckelmann.

Wenngleich in den ersten Jahren nach dem Krieg zuhause nicht gehungert wurde, sind Lebensmittel für die Schwachhauserin bis heute kostbar geblieben. „Ich kaufe immer nur so viel ein, wie ich essen kann“, sagt sie. Wenn sie ihre Portion im Restaurant nicht schaffe („ich war schon immer ein schlechter Esser“) lässt sie sich den Rest einpacken. Meistens jedenfalls. „Ich habe dafür schon pikierte Blicke von Bekannten geerntet“, erzählt sie. Dabei sei das Reste mitnehmen heutzutage bei den jungen Leuten ja sogar ziemlich normal. „Das finde ich sehr gut – Essen wegzuwerfen, tut mir in der Seele weh!“

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Nachkriegsküche: Die Entbehrungen der Nachkriegsjahre haben sich vor allem auf dem Speiseplan vieler Familien widergespiegelt. In unserer Serie berichten Menschen aus dem Bremer Nordosten, was damals bei ihnen auf den Tisch kam – und was nicht.

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