Es geht um gefährliche Körperverletzung und unerlaubten Waffenbesitz in diesem Prozess. Laut Polizei waren Mitglieder einer Großfamilie in Kattenturm aneinandergeraten. Dabei kamen zunächst Hammer, Baseballschläger und Pfefferspray zum Einsatz, dann fielen Schüsse. Die Polizei musste mit einem Großaufgebot einschreiten. Es gab vorläufige Festnahmen und Wohnungsdurchsuchungen, der Kripochef sprach von Clankriminalität. Jetzt steht eine Frau vor Gericht, die damals die Schüsse abgegeben haben soll. Mehr als dreieinhalb Jahre sind seither vergangenen.
Mindestens zehnmal soll die Frau Schüsse in die Luft abgegeben haben. Ungezielt, doch eine der Kugeln durchschlug die Scheibe eines Kinderzimmers im dritten Stock des gegenüberliegenden Gebäudes. Durch die Glassplitter wurde ein Mann verletzt, der die Auseinandersetzung kurz nach Mitternacht des 15. Oktobers 2021 durch das Fenster beobachtete. Dass alles noch weit schlimmer hätte enden können, verdeutlicht am Freitag im Amtsgericht die Aussage eines Polizisten. Die Kugel habe die Scheibe des Kinderzimmers durchschlagen, berichtet er. Und dann ein auf dem Schrank abgelegtes Bobby Car des kleinen Mädchens, das in dem Zimmer schlief.
Die Mutter der Familie hatte den nächtlichen Streit vor ihrem Wohnblock gehört und ihren Mann geweckt. Beide beobachteten die Auseinandersetzung in der Agnes-Heineken-Straße durchs Fenster. Sie habe eine Frau gesehen, die ihren Arm in die Höhe streckte, berichtet die Mutter vor Gericht. Dann habe ein Schuss ihr Fenster getroffen. Er habe das Mündungsfeuer der Waffe gesehen, sagt ihr Mann. Er erlitt durch die Splitter Verletzungen im Gesicht und musste ins Krankenhaus.
Mit der Beschreibung der Schützin tun sich beide Zeugen schwer. Es sei dunkel gewesen, er habe kaum etwas erkennen können, sagt der Mann. Die Frau mit dem erhobenen Arm habe sie im Licht einer Laterne gesehen, sagt dagegen seine Frau. Doch identifizieren konnte sie sie nicht. Nicht damals bei der Polizei, wo man ihr Lichtbilder vorlegte. Und schon gar nicht heute, dreieinhalb Jahre später im Gericht, wo sie sich an fast nichts mehr erinnert.
Dabei hatte sie bei der polizeilichen Vernehmung am Tag nach dem Vorfall durchaus Angaben gemacht. Drei Personen habe sie gesehen, eine davon die Frau, die geschossen hatte. Und von den ihr gezeigten acht Frauen hätte eine große Ähnlichkeit mit einer Frau, die sie schon häufiger in ihrer Nachbarschaft gesehen hatte. Ob es die Frau auf der Anklagebank sei, fragt die Richterin. Doch die Zeugin schüttelt den Kopf und wiederholt, was sie schon damals bei der Polizei ausgesagt hatte. Sie sei sich nicht sicher und wolle niemanden zu Unrecht beschuldigen.
"Haben Sie Angst, dass Ihnen etwas passieren könnte, wenn Sie hier aussagen?", hakt die Richterin nach. Diese Frage hatte sie zuvor auch schon dem Ehemann der Zeugin gestellt. Doch wie ihr Mann verneint die Frau dies entschieden. Sie kenne die Frau nicht und habe auch keinen Kontakt zu ihren Nachbarn. "Warum sollte ich Angst haben?"
Dass die Richterin diese Frage stellt, kommt nicht von ungefähr. Doch zunächst steht am Freitag die Vernehmung sieben weiteren Zeugen an. Zumindest theoretisch. Praktisch handelt es um den Sohn der Angeklagten (nicht vor Gericht erschienen), ihren Bruder (macht als Angehöriger von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch), ihrem Neffen (kurzfristig erkrankt, nicht erschienen), noch einen Neffen (Zeugnisverweigerungsrecht), eine Schwägerin (Zeugnisverweigerungsrecht) und deren Schwester (als Schwester der Schwägerin eigentlich kein Zeugnisverweigerungsrecht, aber mit einem anderen Bruder der Angeklagten verheiratet, also doch Zeugnisverweigerungsrecht, außerdem ebenfalls krank).
Aussagen müsste ausgerechnet der Mann der Angeklagten, denn die beiden sind nur nach islamischem, nicht aber nach deutschem Recht verheiratet. Doch gegen ihn gab es ebenfalls ein Ermittlungsverfahren. Um der Gefahr zu entgehen, sich eventuell selbst belasten zu müssen, hat er deshalb ein Auskunftsverweigerungsrecht.
Dann aber gibt die Aussage der letzten Zeugin an diesem Verhandlungstag dem Prozess eine Wende. Sie war bei der Polizei die Dolmetscherin der Zeugin, die das Geschehen vom Fenster beobachtet hatte. Nach deren Aussage begleitete sie die Frau aus dem Polizeipräsidium, berichtet die Dolmetscherin. Dabei habe die Zeugin ihr erzählt, dass sie die Schützin sehr wohl erkannt habe. Es sei die Frau auf dem zweiten Foto der Lichtbildvorlage gewesen – die Angeklagte. Sie habe das der Polizei nicht erzählt, weil sie sich aufgrund der Wohnsituation bedroht fühle und Angst vor der Familie der Frau habe.
Sie habe mit sich gehadert und erst nicht gewusst, was sie tun solle, erzählt die Dolmetscherin. Dann aber doch die Polizei über diese Aussage informiert – ein wesentlicher Baustein der Anklage. Ein anderer sind offenbar Schmauchspuren, die an der Hand der Angeklagten gefunden wurden. Dies und weitere Zeugen werden am 18. Juli, beim zweiten Prozesstag, Thema sein.