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Ungewöhnliches Angebot eines Bremer Pastors Seelsorge auf der Friedhofsbank

Bremen. Einmal in der Woche, immer zur selben Zeit, nimmt Pastor Holger Gehrke auf einer Friedhofsbank vor der Nikolaikirche in Oslebshausen Platz. Bei jedem Wetter. Er bleibt nie allein. Manche kommen extra hierher, um ihn zu treffen.
06.05.2012, 05:00 Uhr
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Von Rose Gerdts-Schiffler

Bremen. Einmal in der Woche, immer zur selben Zeit, nimmt Pastor Holger Gehrke auf einer Friedhofsbank vor der Nikolaikirche in Oslebshausen Platz. Bei jedem Wetter. Er bleibt nie allein. Manche kommen extra hierher, um ihn zu treffen. Ohne Voranmeldung, ohne Termin und genießen, einfach miteinander reden zu können

Die beige Thermoskanne Tee und das Tablett mit der gefüllten Keksschale oben auf der Steinmauer weisen den Weg: Der Pastor ist wieder da. Immer Freitagnachmittags setzt sich Holger Gehrke auf die Friedhofsbank vor dem Turm der Nikolaikirche in Oslebshausen und wartet, was kommt. Damit hat Gehrke in Norddeutschland für Schlagzeilen gesorgt – was den 61-Jährigen mit dem eisgrauen Vollbart bis heute wundert. Denn: "Ich hatte kein Konzept, außer der Idee, einfach da zu sein, wo die Menschen sind."

Es ist der erste Tag nach der sechsmonatigen Winterpause. Ein frischer Wind weht über den kleinen geometrisch angelegten Friedhof der evangelischen Kirchengemeinde in Oslebshausen. Hier gibt es keine Kriegsgräber und Ehrenmale bis auf den schwarzen Obelisk in Gedenken an den Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Von der schlichten Holzbank auf der Holger Gehrke sich seine erste Tasse Tee des Nachmittags einschenkt, blickt er auf Reihen gepflegter Gräber. Die ältesten sind gerade 120 Jahre alt.

Trauer und Trost

Ein Friedhof steht für Abschied, Tod und Trauer. Aber auch für Trost. Nirgendwo stellt sich die Sinnfrage schärfer und manchmal quälender. Wer möchte, kann sich von Mai bis Oktober Freitagnachmittags zu Pastor Holger Gehrke auf die Bank setzen, plaudern und Tee trinken. Gut eine Stunde lang sitzt er jede Woche dort. Ob jemand kommt oder nicht. Bei Regen findet man ihn direkt hinter der Friedhofsbank in dem Glockenturm. Sozialpädagogen würden das "Da-Sein" des Pastors als "niedrigschwellige Seelsorge" bezeichnen. Gehrke versucht es erst gar nicht in eine Form zu pressen.

"Ich will einfach zuhören und das aufnehmen, womit die Menschen zu mir kommen." Es begann mit einem Taufgespräch, zu dem der Pastor zu früh gekommen war. Gehrke setzte sich auf die Bank und wartete in der Sonne auf die Eltern. Er blieb nicht lange allein und staunte über die Gespräche, die sich plötzlich ergaben.

Manche Friedhofsbesucher teilen sich ihm durch die Blume mit, sprechen über die passende Grabbepflanzung und erzählen zwischen den Zeilen noch eine zweite Geschichte: Von den Verstorbenen, die eine Leere in ihrem Leben hinterlassen haben oder an denen es noch etwas gutzumachen gilt oder die einfach so schmerzhaft fehlen, das die Angehörigen jeden Tag kommen. Andere teilen sich Holger Gehrke direkter mit. So wie Spiros T., den alle nur Theo nennen. Keine fünf Minuten sitzt der Pastor auf seiner Bank, da kommt der gebürtige Grieche und nimmt wie selbstverständlich neben ihm Platz. "Theo, möchtest du einen Tee?" "Lieber ein Gläschen Wein", antwortet Theo und für ein paar Sekunden blitzt so etwas wie Schalk in ihm auf. Vor einem Jahr hat Theo seine Frau verloren. Beinahe jeden Tag geht er sie besuchen. "Ohne die Kirche wäre ich verrückt geworden", sagt er voller Überzeugung und schaut dankbar auf den Pastor, der gerade eine ältere Bremerin begrüßt. Theo ist griechisch-orthodox, die Neue auf der Bank römisch-katholisch. Niemanden stört’s.

"Wir müssen offener werden"

Gehrke würde sich von seiner Kirche mehr Angebote vor Ort wünschen. Dort, wo die Menschen sind, damit sie aus ihrer Vereinzelung herauskommen. Dass einige Kirchen außerhalb des Gottesdienstes abgeschlossen sind, ist ihm bei allem Verständnis ein Dorn im Auge. "Wir müssen offener und offenherziger werden", sagt er überzeugt.

Langsam wir es eng auf der Bank. Frau K. hat sich dazugesetzt. "Vielleicht schaffen Sie sich mal eine zweite Bank an", schlägt sie Gehrke vor. Dann erzählt der Pastor die Geschichte von dem Witwer und der Witwe. Beide waren zweimal verheiratet. Die Gräber ihrer Verstorbenen lagen nebeneinander. Beide wussten, was der andere durchgemacht hatte. Gehrke unterstreicht jedes Wort mit den Händen. Man ahnt, nach so viel Trauer muss es Hoffnung geben. "Und dann habe ich sie eines Tages getraut", schließt der Pastor feierlich. Seine Zuhörer atmen auf.

Ein gebeugter Mann mit einer Harke über der Schulter nähert sich der Bank. Hermann. Tee mag er nicht. Zögernd geht er weiter. "Nächsten Freitag bringe ich Kaffee mit", ruft der Pastor ihm hinterher.

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