Die Uhren im Elternhaus von Florian Wellbrock in Alt-Osterholz gehen in dieser Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ein bisschen anders – besonders bei seiner Mutter Anja. Sie hält es vor Aufregung nicht aus, das komplette Rennen ihres Sohnes im Livestream zu verfolgen. Und nutzt die Gelegenheit, um zu eigentlich nachtschlafender Zeit zur Beruhigung der eigenen Nerven Wäsche zu legen, den Keller zu saugen und immer mal wieder auf dem Balkon frische Luft zu schnappen. Dinge, die man um 0.30 Uhr eben so macht. "Ich leide immer total mit Florian mit", sagt Anja Wellbrock, "wenn's nicht läuft, weiß ich, dass es ihm auch nicht gut geht." Heute, das steht um 1.18 Uhr deutscher Zeit fest, ist alles bestens gelaufen.
Sarah Köhler und ihr Schwiegervater Bernd Wellbrock verfolgten den Goldauftritt des 23-Jährigen wesentlich entspannter – "zumindest äußerlich", wie er sagt. Die Verlobte des frischgebackenen Olympiasiegers, die in Tokio wie Florian Wellbrock Bronze über 1500 Meter Freistil gewann, habe sich auf dem Lieblingsplatz ihrer Schwiegereltern auf dem Ecksofa mit ihrem Hund Kojak, einer französischen Bulldogge, eingekuschelt, sagt Anja Wellbrock. Daneben habe sie selbst gesessen, wenn sie nicht gerade im Hause unterwegs war; und daneben Bernd. Auf dem Tisch: Wasser – sonst nichts. „Ich hätte Häppchen gemacht, aber niemand wollte etwas essen. Wir haben nicht einmal hinterher einen Sekt getrunken“, sagt Anja Wellbrock am Morgen danach. Gemeinsam mit ihrem Mann spricht sie mit dem WESER-KURIER, während Sarah Köhler mit dem Hund eine Runde dreht. Die 27-Jährige ist erst seit ein paar Stunden in Bremen, der Jetlag nach der Rückkehr aus Japan setze ihr zu, sagt die Schwiegermutter. Das Anstoßen auf den Triumph ist aber nur verschoben: Hackfleischpizza und eine schöne Flasche Rotwein soll es am Donnerstagabend zur Feier des Tages geben.
Für Mutter und Vater sei es ein komisches Gefühl gewesen, das bislang größte Rennen ihres Sohnes nicht vor Ort verfolgen zu können. „Sonst winken wir ihm zu und feuern ihn an“, sagt Anja Wellbrock. Bringt diesmal nichts, weil Florian nichts davon mitbekommt. Natürlich fieberte die Familie trotzdem mit. Und sie habe darüber gestaunt, mit welcher Überlegenheit Florian Wellbrock sein Rennen macht. So richtige Spannung habe er gar nicht verspürt, sagt Bernd Wellbrock. Wohl aber habe er ein bisschen Angst gehabt, ob sein Sohn durchhalten würde oder ob er doch noch einbricht. „700 Meter vor dem Ziel habe ich gewusst: Er schafft es“, sagt Bernd Wellbrock. Seine Frau dagegen ist hin- und hergerissen. Mütter sind da vielleicht anders als Väter. Es könne ja immer noch etwas schiefgehen. "Solange er nicht angeschlagen hat, jubeln wir auch nicht", sagt sie. Dabei habe das Handy der Wellbrocks schon vor Florian Wellbrocks Zielankunft nicht mehr stillgehalten. "Es kamen schon so viele Glückwünsche", sagt Anja Wellbrock.

Gerhard Hasler Ende 2013 an seinem Arbeitsplatz als Bremer Landestrainer, dem Unibad.
Auch gut 700 Kilometer südlich von Bremen fieberte ein Mann mit Florian Wellbrock mit, der seinen Anteil am Erfolg des Schwimmers hat. „Das macht mich schon ein bisschen stolz“, sagt Gerhard Hasler. Er war an der Sportbetonten Schule Ronzelenstraße zeitweise der Lehrer und bis 2014 der Trainer des Olympiasiegers. Inzwischen lebt Hasler in Freiburg und arbeitet dort hauptamtlich als Nachwuchstrainer des Schwimmsportvereins Freiburg. „Mein Sohn und ich haben Florian am Fernseher kräftig angefeuert“, sagt Hasler. Er bescheinigt seinem ehemaligen Schützling ein „Wahnsinnsrennen mit einer super taktischen Meisterleistung“. Klar, es könne immer noch etwas passieren auf den letzten Metern. „Aber Florian war von Anfang an so souverän.“
Die Ergebnisse der akribischen Arbeit von Wellbrocks Trainer Bernd Berkhahn seien gut zu erkennen, sagt Hasler. Trainer und Sportler passen offensichtlich perfekt zusammen. „Auch Florian war immer schon sehr fokussiert“, sagt sein Ex-Trainer. Er sei von seinem Typ her „eher ruhig und kann Dinge mit sich selbst ausmachen“. Vor allem aber habe der 23-Jährige, so Hasler, „seine Lehren aus Olympia 2016 gezogen“. Die Fehler, die ihm in Rio de Janeiro unterliefen, hat er in Tokio nicht mehr gemacht.
Harald Wolf war an seinem Urlaubsort in Süditalien derart aufgewühlt, dass er nach dem Rennen erst mal gar nicht habe einschlafen können. Als Lehrer und Leistungssportkoordinator an der Schule Ronzelenstraße hat Wolf seinen ehemaligen Schüler nie aus den Augen verloren. „Unglaublich, wie er das Rennen von vorne weg geschwommen ist“, sagt er. Den einzigen Schreckmoment erlebte Wolf in dieser Nacht, als nach einer Stunde der Bildschirm schwarz wurde. Zum Glück funktionierte die Internetverbindung bald wieder. Zweifel an Wellbrocks Erfolg und an seinem Durchhaltevermögen habe er nicht gehabt. Wolf, selbst ein erfahrener Schwimmtrainer, deutete alle Äußerungen und Zurufe während des Rennens von Bernd Berkhahn in Richtung Wellbrock als Zeichen dafür, dass beim Schwimmer alles wie geplant lief.

Lehrer und Leistungssportkoordinator an der Sportbetonten Schule Ronzelenstraße: Harald Wolf.
Nach Julia Stavickaja, die in der Rhythmischen Sportgymnastik 2016 in Rio turnte, ist Florian Wellbrock der zweite Ehemalige der Schule Ronzelenstraße mit einem Olympiaticket – und der erste mit einer Goldmedaille. „Wir werden uns als Schule ihm zu Ehren noch etwas einfallen lassen“, verspricht Harald Wolf. Das ganze Kollegium habe das Rennen am Donnerstag verfolgt, sagt er, und in den sozialen Medien hätten sich die Einträge nur so überschlagen.
Acht Stunden nach dem Zieleinlauf können Anja und Bernd Wellbrock die Tragweite des Triumphes ihres Sohnes noch nicht ermessen. So wirklich realisiert haben sie noch nicht, was in Japan passiert ist. "Mit einer olympischen Goldmedaille steht man irgendwann in den Geschichtsbüchern", sagt Bernd Wellbrock. Er hat eine Ahnung davon, dass seinem Sohn etwas Historisches gelungen ist. Weltmeister über 1500 Meter im Becken und zehn Kilometer im Freiwasser zu sein, ist schon herausragend. Aber der Olympiasieg ist noch mal eine andere Kategorie.
33 Jahre hat es gedauert, bis ein Mann mal wieder Olympia-Gold im Schwimmen für Deutschland holt. Michael Groß war bis Donnerstag der letzte. Nun also steht Florian Wellbrock, der Junge aus Bremen, auf einer Stufe mit den Größten seiner Sportart. "Irgendwie unfassbar", sagt Anja Wellbrock. Doch bald schon dürfte auch sie sich an diesen schönen Gedanken gewöhnt haben.