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Interview „Wer einmal zugeschaut hat, ist begeistert“

Nico Röger spielt seit über 20 Jahren Rollstuhlbasketball. Im Interview spricht er über seine Behinderung und die Rolle, die der Sport in seinem Leben spielt.
25.05.2019, 20:42 Uhr
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„Wer einmal zugeschaut hat, ist begeistert“
Von Marc Hagedorn

Es geht in dieser Interview-Reihe um Sportarten und die Menschen, die sie betreiben. Wie sehr nervt es Sie, dass Sie automatisch auch immer über Ihre Behinderung sprechen müssen, wenn es um Rollstuhlbasketball geht?

Nico Röger: Das ist schon in Ordnung. Die Behinderung gehört ja dazu. Als ich jünger war, habe ich allerdings nicht so gerne gesagt, dass ich Rollstuhlbasketball spiele. Denn dann war ich gleich in Erklärungszwang. Du musstest sofort die Karten auf den Tisch legen. Das war immer ein bisschen unangenehm, und deshalb habe ich anfangs lieber gesagt: Ich spiele Basketball.

Was ist damals passiert?

Ich hatte Knochenkrebs. Mein rechtes Knie ist amputiert worden. Knie und Unterschenkel fehlen seitdem.

Wann war das?

Kurz vor meinem zehnten Geburtstag. Ich war leidenschaftlicher Fußballer bei der JSG Wieste. Ich war auch ziemlich gut. Der Plan war, zu Werder zu wechseln.

Und dann?

Nach dem letzten Saisonspiel ging es los. Am Samstag war noch alles top, wir hatten gewonnen, die Meisterschaft gefeiert. Am Sonntag konnte ich dann plötzlich nicht mehr aufstehen, nicht mehr auftreten, hab' ziemliche Schmerzen gehabt. Als es nicht besser wurde, haben meine Eltern es abchecken lassen. Wir sind zum Hausarzt, der hat das Bein geröntgt und ein schlechtes Gefühl gehabt. Also zum Orthopäden, und der hatte ein noch mieseres Gefühl. Deshalb ins Krankenhaus – und dann ging es los. Diagnose, OP, Chemo.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich bin ein Dorfkind. Sobald du als Dorfkind Freizeit hast, bist du unterwegs. Auf dem Bauernhof. Oder beim Fußball, am besten von morgens bis abends. Deshalb war das Gemeinste zunächst, dass ich bei meinen Freunden plötzlich nicht mehr mitspielen konnte. Dass es endgültig ist, habe ich als Zehnjähriger am Anfang noch gar nicht so richtig auf dem Schirm gehabt. Ich glaube, ich habe es besser weggesteckt als meine Eltern. Ich kann mich noch an den Moment erinnern, als meine Mutter mir unter Tränen von der Diagnose erzählt hat. Da hab' ich gesagt: Ach Mama, das wird schon.

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Welche Rolle hat der Sport nach der OP gespielt?

Sport war immer wichtig. Ich lebe Sport. Ich habe selbst kurz vor der OP noch versucht, mit den Jungs zu kicken, an Krücken. Ich bin Fahrrad gefahren. In der Reha habe ich dann Rollstuhlsport kennengelernt. Badminton und Basketball. Gespielt habe ich dann aber erstmal Badminton.

Warum?

Ich war zeitgleich mit einer Badminton-Nationalspielerin in der Reha, das hat natürlich Spaß gemacht. Aber der nächste Verein wäre an der holländischen Grenze gewesen.

Also Basketball.

Zu der Zeit haben einige Eltern versucht, Rollstuhlbasketball in Rotenburg aufzubauen.

Haben Sie auch mal andere Sportarten in Betracht gezogen?

Es gab tatsächlich eine Phase, in der ich keinen Bock mehr auf Rollstuhlbasketball hatte, aber das lag eher am Drumherum im damaligen Verein als am Spiel selbst. Ich habe mir mal Sledge-Eishockey angeguckt…

…Eishockey für Menschen mit Behinderungen, die auf einer Art Schlitten sitzen…

…aber in der Halle war’s mir zu kalt. (lacht) Und ein bisschen verrückter als wir Basketballer sind die auch. (lacht lauter)

Tennis?

Einzelsport. Das Thema hatte ich mit Badminton schon durch.

Rugby?

Rugby war damals noch nicht so präsent wie heute. Im Basketball gab einfach viele Möglichkeiten für mich. Und ich hatte mit tollen Leute zu tun, Mitspielern und Trainern. Am Basketball liebe ich, dass du als Mannschaft agieren musst. Je besser das Zusammenspiel, desto erfolgreicher bist du. Dazu kommt die Dynamik, die Power und Athletik. Das ist einfach der Hammer. Ich bin keiner, der die NBA rauf und runterguckt. Ich gehe aber gern mit meiner Tochter mal nach Oldenburg oder Bremerhaven zum Basketball. Ihr gefällt das sehr, allerdings wundert sie sich immer, warum die keine Rollstühle haben.

Wie ehrgeizig sind Sie? Sie haben in der ersten und zweiten Liga gespielt, sind Spieler und Trainer.

Es stimmt schon, dass ich grundsätzlich etwas erreichen möchte, ich investiere ziemlich viel Zeit. Mit den Achim Lions zum Beispiel würde ich gerne in die zweite Liga aufsteigen. Und als ich noch ein junger Spieler war, war es so: Du merkst, du wirst besser, und wenn du die Chance hast, eine Liga höher zu spielen, dann pusht dich das. Ich hätte damals auch nach Bonn oder Berlin gehen können.

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Wie ernsthaft haben Sie über einen Wechsel nachgedacht?

Ich habe tatsächlich überlegt, es zu tun. Man ist wahnsinnig stolz, wenn so eine Anfrage kommt. Da bist du auf Wolke sieben. Aber ich wollte meinen Lebensmittelpunkt nicht verlagern.

Weil man von dem Sport nicht leben kann.

Kommt drauf an. Es gibt Klubs mit hauptamtlichen Trainern. Vereine, die Kontakte zu Universitäten oder Ausbildungsbetrieben haben und für ihre Spieler etwas möglich machen können. Allein in der zweiten Liga liegen die Etats heute schon bei 250 000 Euro.

Sie spielen mit den Achim Lions in der dritten Liga gegen Mannschaften, die aus Rostock, Kiel, Meppen und Hamburg kommen. Wie schwer ist es, so eine Saison zu finanzieren?

Es ist nicht leicht. Achim ist eine Fußball- und Handballstadt. Rollstuhlbasketball ist eine Randsportart des Randsports. Aber wir haben das riesengroße Glück, 2016 beim TSV Achim eine Heimat gefunden zu haben, in der man total hinter dem Sport steht. Wir haben angefangen vor fünf Leuten in der Halle. Der Aufstieg hat uns dann einen Kick gegeben, 150 Leute waren da, wir mussten zusätzliche Stühle rankarren. Jetzt kommen immer noch um die 100 bis 120 Leute. Das ist für die Liga und diesen Sport schon großartig. Wer einmal zugeschaut hat, ist begeistert.

Weil es auch ordentlich zur Sache geht, oder?

Man sagt, dass es ein bisschen wie Autoscooter ist. Rollstuhlbasketball ist kontaktfreudiger als Fußgängerbasketball. Es knallt. Der Sport ist schnell. Die Leute liegen auch mal auf dem Boden. Und jeder, der Basketball ein bisschen kennt, versteht auch diesen Sport schnell.

Regeln und Zählweise sind tatsächlich ähnlich. Aber ein zentraler Unterschied ist die Zusammenstellung der Mannschaft. Jeder Spieler wird je nach Beeinträchtigung nach einem Punktesystem bewertet. Von 4,5 bis zur höchsten Behinderungsstufe 1,0. Was sind Sie?

Ich bin ein Vierer. Ich habe eine Einschränkung zur rechten Seite hin. Ein 4,5-Spieler ist im Prinzip gesund, bei ihm geht’s höchstens noch um eine Minimalbehinderung, zum Beispiel ein kaputtes Kreuzband. Oder (lacht) um ein schiefes Becken oder einen eingerissenen Fußnagel.

Die fünf Spieler, die auf dem Feld sind, dürfen zusammengerechnet auf nicht mehr als 14,5 Mannschaftspunkte kommen. Wie stellt man am schlausten auf?

Dafür gibt es keine Faustregel. Es spielen viele Faktoren eine Rolle. Frauen im Team bekommen zum Beispiel Bonuspunkte. Spieler, die unter 18 sind, auch. Wir sind eine gemischte Mannschaft; die Hälfte der Spieler ist nicht behindert. Die Jüngste im Team ist 13, der Älteste Mitte 50.

Und das funktioniert? 13-Jährige, die gegen gestandene Routiniers antreten?

Auf jeden Fall. Jana ist 13 und erst vergangenes Jahr zu uns gekommen. Heute ist sie die jüngste Nationalspielerin in Deutschland. Es ist eine Freude, sie zu sehen, wie sie sich reinhaut. Wer Bock hat, kann was erreichen in diesem Sport. Deshalb mein Appell an die Eltern, gerade von gehandicappten Kindern: Runter vom Sofa! Traut euren Kindern was zu! Ich erinnere mich bei Jana an eine bestimmte Szene. Erstes Spiel, erster Crash, sie lag richtig auf der Nase. Die Mutter war geschockt, aber Jana ist aufgestanden und hat gesagt: Weiter geht’s. Das finde ich cool. Ich sage immer: Wenn du nicht einmal im Spiel auf der Nase gelegen hast, hast du nicht alles gegeben.

Neben den Spielern muss auch der Rollstuhl eine Menge aushalten. Welche Rolle spielt er?

Der Rollstuhl ist ein Sportgerät. Ich vergleiche ihn mit einem Snowboard. Du stellst dich drauf und fährst die Piste runter. Hier setzt du dich in den Stuhl und legst los. Wie mit jedem Sportgerät musst du am Anfang üben, aber irgendwann spielt es keine Rolle mehr, ob du im Alltag einen Rollstuhl brauchst oder nur beim Basketball.

Wenn man sieht, wie oft die Spieler aneinanderrasseln, muss der Stuhl schon eine Menge aushalten. Wie teuer ist so ein Stück?

Was schätzen Sie denn?

2000 bis 3000 Euro?

Wenn Sie das mit zwei multiplizieren, haben Sie den Preis. Zum Glück bezahlen das die Berufsgenossenschaften. Die Krankenkassen stellen sich leider quer. Das Teure an den Stühlen ist die Maßarbeit, die drin steckt. Jeder Spieler wird vorher komplett vermessen. Jeder Stuhl ist auf den Zentimeter genau auf den Spieler angepasst. Die Bauzeit beträgt vier Monate. Alle Stühle sind genormt. Alle Spieler sitzen auf gleicher Höhe, und wer einen langen Oberkörper hat, hat es natürlich leichter, Rebounds abzufangen.

Sie spielen als Center. Beim Fußgängerbasketball sind das die größten und kräftigsten Spieler, sie sind in erster Linie für die Rebounds, die Abpraller vom Brett, zuständig.

Stimmt, aber ich war nie ein klassischer Center mit meinen 1,70 Meter. Ich bin Center, aber eher ein Wühler und wendig, vielleicht so ähnlich wie Rashica bei Werder. Mir macht es in der Zone, also unterm Korb, am meisten Spaß. Da geht es zur Sache.

Haben Sie sich jemals ernsthaft verletzt?

Gemessen daran, wie ich spiele, habe ich im Vergleich zu manch anderen Glück gehabt. Eine angebrochene Rippe war das Wildeste.

Wie kam es dazu?

Es war bei einem Turnier in Dänemark. Ich war auf dem Weg zum Korb, aber das mochte der Gegenspieler wohl nicht, er hat mich gestreift, und das hat gereicht, um zu stürzen. Ich Pappnase habe den Ball aber nicht los gelassen, ich wollte ihn einfach nicht hergeben, und bin auf den Ball gefallen.

Wie lange wollen Sie noch spielen?

Man wird älter, aber ich mag dieses Reinhauen immer noch gerne. Solange ich das noch kann, mache ich weiter. Man kann Rollstuhlbasketball bis ins hohe Alter spielen. Also Pizarro hole ich noch ein.

Das Gespräch führte Marc Hagedorn.

Zur Person

Zur Person

Nico Röger (35) ist kaufmännischer Angestellter, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er spielt seit über 20 Jahren Rollstuhlbasketball. Er hat mit dem RBV Lüneburg in der zweiten Bundesliga gespielt und ein Jahr lang mit Hannover United sogar in der ersten Liga. Davor, dazwischen und danach war und ist Achim seine sportliche Heimat. Hier ist er Trainer und Spieler der Lions, die in der Regionalliga antreten.

Info

Zur Sache

Rollstuhlbasketball

Die Achim Lions sind das regionale Aushängeschild der hiesigen Rollstuhlbasketball-Szene. Die Löwen spielen in der Regionalliga, das ist die dritthöchste Klasse. Die Saison haben sie im März als Tabellenvierter abgeschlossen – als Aufsteiger eine reife Leistung.

Rollstuhlbasketball wird seit 1946 gespielt. Erfunden haben den Sport basketballbegeisterte Kriegsveteranen in den USA. Heute wird Rollstuhlbasketball in 80 Ländern von rund 25 000 Sportlern betrieben. Die Regeln und das Punktsystem sind sehr ähnlich den Regeln des traditionellen Basketballs. Der Sport ist schnell.

Deutschland hat international ein paar Erfolge gefeiert. Die Männer holten 1992 bei den Paralympics in Barcelona Silber. Aktuell dominieren die Teams aus den USA, Kanada, Australien und Großbritannien die Szene. Erfolgreicher als die deutschen Männer sind die Frauen, sie haben dreimal die Paralympics gewonnen (zuletzt 2012 in London) und viermal Silber geholt.

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