Blumenthal. Nach 25 Jahren Glanz und Gloria ist Schluss. Der Vorhang fällt. Das Erfolgsteam des Blumenthaler TV, das zwischen 1998 und heute 22 Mal als deutscher Meister in der Sportart Gymnastik und Tanz gefeiert wurde, befindet sich auf Abschiedstournee. Kürzlich nahm der BTV letztmalig an der Landesmeisterschaft teil, Ende September erfolgt nun der Abschied auf nationaler Bühne bei der deutschen Meisterschaft in Bayern. „Wir wollen uns auf jeden Fall mit dem Titel verabschieden“, sagt Nicole Gerdes, die das Team im Anschluss an ihre Karriere in der Rhythmischen Sportgymnastik gebildet hatte. Samia Lange, ebenfalls ein Teammitglied der ersten Stunde, sieht es genauso: „Ich höre nicht als Zweite auf.“
Aber warum zieht diese Ausnahmemannschaft einen Schlussstrich, wenn der Wille und das Können immer noch da sind, um weitere Titel folgen zu lassen? Momentan sind es derer 22, drei weniger, als rein rechnerisch in diesem Zeitraum möglich gewesen wären. Aber nur rein rechnerisch. Denn eine DM fiel Corona zum Opfer. Einmal ließ sich die erste Mannschaft von der zweiten, die ein würdiger Vertreter war und sich Gold schnappte, schwangerschaftsbedingt vertreten. Und einmal ging der alleinige Titel an Großzimmern. Das Wort alleinige spielt dabei eine Rolle. Denn bei seinem DM-Debüt hatte sich der BTV den ersten Platz mit Großzimmern teilen müssen.
"Eine Reise geht zu Ende"
Dass nun im Herbst 2023 eine Ära zu Ende geht, beschreibt Nicole Gerdes als „meine Entscheidung“. Letztlich würden ihr aber alle zustimmen, „denn es fängt an, anstrengend zu werden.“ Einst in der Altersklasse 18+ gestartet, ist der BTV mittlerweile in der Konkurrenz 30+ unterwegs. Und das mit Gymnastinnen wie Nicole Gerdes (47), Samia Lange (43) und Steffanie Nitschke (44), die ein paar Jährchen jenseits dieser Marke sind. „Eine Reise geht zu Ende. Es ist ein guter Zeitpunkt nach 25 Jahren“, findet Nicole Gerdes und führt auch eine Verschiebung der Lebensinhalte als Grund an: „Viele sind bereits Eltern oder werden es.“
Mit einem geteilten Titel im Jahr 1998 hatte die Reise, die sich als geradezu märchenhafter Siegeszug des BTV entpuppte, begonnen. Ein Siegeszug in einer Sportart, in der die BTV-Gymnastinnen neue Maßstäbe setzten. Aus der Rhythmischen Sportgymnastik kommend, brachten sie eine besondere Ausstrahlung sowie eine bis dahin nicht gekannte Exaktheit und Bewegungsbreite mit und waren schnell das Nonplusultra. Die Formation, die zwei Jahre vor dem Jahrtausendwechsel die erste deutsche Meisterschaft nach Blumenthal holt, stand mit zwölf Gymnastinnen auf der Bühne. Nun sind es noch sechs (Steffanie und Marion Nitschke, Samia Lange, Kerstin Grecht, Irina Herdzina und Nicole Gerdes) sowie Carolin Hesse (in der Reserve), die minimal benötigte Anzahl, um teilnehmen zu dürfen. Die Altersspanne im jetzigen Sextett liegt zwischen 34 und 47 Jahren. „Der harte Kern ist geblieben. Es war eine prägende Zeit, wir haben viel durchgemacht“, sagt Steffanie Nitschke. Samia Lange formuliert es so: „Wir haben gestritten, geheult und gelacht.“
Dass Nicole Gerdes, Steffanie und Marion Nitschke sowie Samia Lange diese Strecke über 25 Jahre gemeinsam gegangen sind, passt kaum noch in diese Zeit und zeichnet das Quartett neben all ihren Erfolgen ein weiteres Mal aus. „Wir sind noch vom alten Schlag“, begründet Nicole Gerdes das Überleben dieser Gemeinschaft und Samia Lange ergänzt: „Auf Verletzte wird keine Rücksicht genommen.“ Soll heißen: Ob mit gebrochenem Zeh oder Bandscheibenproblemen – auf die Zähne beißen, weiter geht‘s. War einst Nicole Gerdes der Kopf dieses Teams und „unser Vorbild“ (Steffanie Nitschke), so geht es schon länger bei der Entstehung der Choreografien gemeinschaftlich zu. Und nicht nur das. „Wir passen die Choreografien an. Jeder macht das, was er kann“, beschreibt Nicole Gerdes. „Wir sind ja keine 20 mehr“, begründet Samia Lange die Anpassungen. Umgesetzt wird das in zweimal 120 Minuten pro Woche, darüber hinaus treffe man sich noch zur Fertigstellung der Kostüme, bei der man sich auf fleißige Helfer aus der Verwandtschaft verlassen könne.
Bei den Auftritten auf nationaler Bühne konnten sie sich immer auf ihr Können verlassen. Ein Können, das wegen des eigenen Anspruchs immer von Perfektion geprägt war. Die erste Kostprobe gab es 1998. Da konnten sich die Wertungsrichter zwischen Altbewährtem und der vom BTV präsentierten neuen Dimension in der Sportart Gymnastik und Tanz noch nicht entscheiden und erklärten zwei Teams zum Sieger. So weit, so gut. Nun stellte sich aber heraus, dass die für den deutschen Meister ausgelobte Reise nach Gran Canaria nur für eine Mannschaft galt. Die Frage des Ausrichters, ob eines der beiden Siegerteams zu Gunsten des anderen zurücktreten wolle, wurde von beiden Seiten mit einem Nein beantwortet.
Wenig später hieß es: Kopf oder Zahl? „Wir durften hin“, erfreut sich Nicole Gerdes noch heute am Losglück von damals. Den Auftritt auf Gran Canaria bei einer Großveranstaltung, die der Gymnastrada geglichen hätte, war für Samia Lange das Highlight ihrer Sportlerkarriere: „Wir haben alles geturnt und gezeigt, was wir können.“ Und die Abende auf der Partymeile seien auch ordentlich ausgekostet worden.
Boarding in letzter Sekunde
Es folgten weitere 21 DM-Titel mit jeweils ganz besonderen Erlebnissen. In Stuttgart (2020) endete eine kuriose Taxifahrt mit einem Boarding in letzter Sekunde und dem höhnischen Beifall der wartenden Passagiere. „Dann habe ich gerufen, dass wir gerade deutscher Meister geworden sind und habe die Medaille gezeigt“, erinnert sich Samia Lange. Was dann folgte, wäre ein freundliches Klatschen gewesen. Speziell sei der Auftritt 2005 in der Max-Schmeling-Halle gewesen, wo sich die Gymnastinnen live auf einer riesigen Leinwand in Echtzeit sehen konnten. Etwas Besonderes sei auch die Heim-DM in der Uni-Halle gewesen. Nicht zu vergessen die Ereignisse bei der DM 2013, die von langen Gesichtern und Tränen der Enttäuschung flankiert wurden. Denn nicht für den BTV, sondern für Großzimmern gab es Meisterehren. Eine Bewertung, die Steffanie Nitschke noch heute als „ungerecht“ bezeichnet und die Samia Lange zehn Jahre später noch so kommentiert: „Die wollten mal jemand anders ganz oben haben.“ Und auch Nicole Gerdes hat die Enttäuschung noch vor Augen: „Wir haben versucht, das zu zeigen, was wir aus der RSG können. Es war ein geiles Gefühl. Und dann wurden wir nur Zweiter.“ Zehn Jahre später, bei der DM 2023, soll sich Derartiges natürlich nicht wiederholen, wie Samia Lange ja bereits verkündete: „Ich höre nicht als Zweite auf.“ Der Abschied von den Masters 30+ ist natürlich kein Abschied von der Rhythmischen Sportgymnastik. „Meine Sportart bleibt mir ja erhalten“, sagt Nicole Gerdes und spricht da nicht für sich allein. Und wer weiß: Sollte es irgendwann ein anderes Format oder eine AK 40+ geben, dann würden Gerdes und Co. ein Comeback nicht ausschließen.