Die Damen am Nebentisch schauen unauffällig herüber. Mit wem die Helga da wohl zusammensitzt? Könnte jemand von der Zeitung sein, wie es aussieht. Tatsächlich hat sich der WESER-KURIER mit Helga Schönfeld verabredet. Die Seniorin will den Lesern ihren Kiez vorstellen. „Da haben Sie mit der Helga genau die Richtige erwischt“, sagt Regina, eine der beiden Damen vom Nebentisch, „die Helga kennt dieses Quartier wie keine Zweite. Die wird Ihnen viel erzählen können.“
Es ist kein Zufall, dass Helga Schönfeld das „Haus der Zukunft“ als Treffpunkt vorgeschlagen hat. Hier kann sie an diesem Tag das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Im „Haus der Zukunft“ isst sie regelmäßig zu Mittag. Heute gibt es Spätzle mit Sahnelinsen. „Die sind immer sehr lecker“, sagt sie. Außerdem sind sie und ihr Besuch schon mal mittendrin in ihrem Kiez, wenn sie hier zusammensitzen.
Ihr Kiez ist die Lüssumer Heide. Kein einfaches Pflaster. Im Behördensprech ist die Lüssumer Heide ein sogenannter Ankunftsort. Das heißt, dass Menschen aus aller Welt, die zum ersten Mal nach Deutschland beziehungsweise nach Bremen kommen, um hier zu leben, oft in Bremen-Nord andocken. Über 40 Nationalitäten leben in dem Quartier, dessen Architektur heute noch von mehrstöckigen Mehrfamilienhäusern geprägt ist. „Zum Glück sind fast alle Hochhäuser inzwischen weg“, sagt Helga Schönfeld. Aber dazu kommen wir später noch. Jetzt will sie erst einmal in Ruhe ihre Spätzle essen.
Dass es das „Haus der Zukunft“ gibt, hat mit Helga Schönfeld selbst zu tun. Seit fast 50 Jahren lebt sie in einem Reihenhaus am Lüssumer Ring, der an einer Seite an die Lüssumer Heide grenzt. „Es war lange Jahre eine Gegend, die ihre Probleme hatte“, sagt sie. Umso wichtiger war es ihr und ihrer Kirchengemeinde damals, einen Ort zu schaffen, an dem alle Menschen zusammenkommen sollten, an dem sie Kontakte knüpfen und Hilfe in allen möglichen Fragen des Lebens finden würden. „Hier muss sich niemand ausgeschlossen fühlen“, sagt sie.

Ein Plätzchen zum Ausruhen ist ihre Bank im Grünen Band, das sich zwischen B74 und Lüssumer Ring spannt, Spielplatz und Erholungsort in einem.
Wie aufs Stichwort reicht ein Mitarbeiter des Hauses ein Programmheft herüber. Der Plan für den Herbst und Winter 2024: Raum der Begegnung für afrikanische Frauen, freitags zwischen 10 und 12 Uhr. Café Memory – Rätsel und Denkspiele für die Gehirnfitness, in diesem Jahr noch am 11. Dezember einmal. Oldie but Goldie, eine Chorleiterin lädt einmal im Monat mittwochs zum Singnachmittag ein. Strick-Bastel-Klön-Café, 14-tägig sonnabends. So geht das über mehrere Seiten weiter.
Helga Schönfeld sagt das nicht so deutlich, aber man merkt ihr beim Erzählen schon an, dass sie auch ein wenig stolz darauf ist, dass es das „Haus der Zukunft“ jetzt schon 25 Jahre lang gibt. Die Urkunden im Hausflur – der BDA-Preis Bremen von 1998, das Dankeschön zum Kirchentag 2009, die Auszeichnung der Stadtteil-Initiative „gemeinsam gut!“ von der Sparkasse – sind die Bestätigung dafür, dass sie hier oben in Lüssum, in Bremen-Nord, über all die Jahre eine Menge auf die Beine gestellt und richtig gemacht haben.
Und wo wir gerade über Jahre reden. „Wie alt bist du eigentlich, Helga?“, will ein Tischnachbar wissen. „Ach“, sagt sie, „das spielt hier keine Rolle.“ Und behält ihr Alter für sich. Es ist jetzt sowieso Zeit, loszugehen. Auch der Weihnachtskuchen zum Dessert hat ausgezeichnet geschmeckt. „Und Sie sollen ja auch noch was zu sehen bekommen“, sagt sie. Also ab nach draußen.

„Hier hat sich viel zum Besseren verändert“, sagt Helga Schönfeld, seitdem die Gewoba vor vier Jahren über 220 Wohnungen in der Lüssumer Heide übernommen hat.
Helga Schönfeld schiebt ihren Rollator über die Gehwegplatten, die Wohnblock mit Wohnblock verbinden. Die Häuser, meist vier Stockwerke hoch, standen damals gerade erst, als sie mit ihrem Mann hierhergezogen war. „Die Wohnungen waren sehr beliebt, weil sie großzügig geschnitten und gut ausgestattet waren“, sagt sie. Aber irgendwann hinterließ die Zeit ihre Spuren. „Hier sah es zwischendurch sehr schlimm aus“, sagt sie.
Aber seit die Gewoba vor vier Jahren mehr als 220 Wohnungen von Vonovia übernommen hat, habe sich hier vieles zum Besseren verändert. Kein Müll mehr vor den Eingangstüren, stattdessen sind die Hecken gestutzt, und die Beleuchtung funktioniert. Im Frühjahr blühen nun Veilchen und Krokusse. Auf den Grünflächen vor den Hausfluren ist an diesem grauen Novembertag nicht viel los. „Aber im Sommer spielen die Kinder hier“, sagt sie, „das ist immer ein schönes Bild.“
Ihr nächstes Ziel ist das Spielhaus. Es liegt am Beginn des Grünen Bandes, wie die Fläche zwischen der B74 und dem Lüssumer Ring heißt. 18.000 Quadratmeter Bäume und Wiesen, Spielplatz und Erholungsort in einem. Klettergeräte, Schaukeln, Fußballfelder, Basketballkörbe, eine Feuerstelle, auch hier alles Orte, an denen Menschen zusammenkommen. „Und das tun sie auch“, sagt Helga Schönfeld.

Helga Schönfeld ist eine stolze Oma: An den maritimen Motiven am Wikingerschiff vor dem Spielhaus hat ihr Enkel Torge mitgearbeitet.
Und dann erzählt sie, wie es hier vorher ausgesehen hat. „Dort“, sagt Helga Schönfeld und weist mit einer ausholenden Handbewegung in Richtung B74, „dort standen früher die Hochhäuser.“ Wohl ein halbes Dutzend. Alle weg heute. „Gut so“, findet sie. Wenn der Bau der B74, den sie damals zunächst abgelehnt hatte, am Ende doch etwas Gutes hatte, dann die Tatsache, dass die Menschen hier zum Ausgleich das Grüne Band bekommen haben.
Doch eigentlich wollte sie ja auch noch was zum Spielhaus sagen. Es ist Anlaufstelle für Kinder zwischen fünf und 13 Jahren. Kochen, Basteln, Backen, draußen steht ein Backhaus, Malen und Theaterspielen können sie hier, „eine gute Sache“ findet Helga Schönfeld, die sich nun auf der Reling eines Wikingerschiffes niedergelassen hat. Kein richtiges Schiff, ein Spielgerät, aber mit Mast und Ausguck, alles von Hand gebaut. Ihr ältester Enkel Torge hat daran vor ein paar Jahren mitgearbeitet. Eine der maritimen Verzierungen, einen Leuchtturm, hat er in den Stein gepickt.
Helga Schönfeld kramt nun ein Stück Papier aus ihrer Tasche am Rollator. Ihr Spickzettel, auf dem sie sich ein paar Notizen gemacht hat. Zum letzten verbliebenen Gewoba-Hochhaus am Lüssumer Ring will sie noch. Auf dem Weg dorthin fängt sie schon einmal an zu erzählen. Lämmerweg 22 sei damals die Adresse des Hauses gewesen, „ganz verrufen war das“. Kein Vergleich mehr zu heute. „Heißt ja jetzt auch Lüssumer Ring 90“, sagt sie verschmitzt.

Gar nicht mehr hässlich, sondern schön und längst über die Grenzen von Bremen-Nord bekannt: das Hochhaus mit dem gepinselten Löwenzahn auf der Fassade.
Aber natürlich war es mit der Umbenennung allein nicht getan. Das Haus bekam einen Fahrstuhl und eine Grundsanierung verpasst. Und zum Schluss auch noch das Gemälde auf die Fassade gepinselt, das vermutlich viele Bremer kennen: die Pusteblume, die ihren Hals in die Höhe reckt, „den Löwenzahn ohne Zähne“, wie Helga Schönfeld es ausdrückt. Für diesen Entwurf hat auch sie damals ihre Stimme abgegeben.
Der Himmel zieht sich jetzt langsam zu. Aus Grau wird dunkelgrau. Gerade noch Zeit für eine letzte Station. Auch die ist Helga Schönfeld wichtig, weil sie zeigt, wie die Menschen in ihrem Kiez ticken. Es ist auch gar nicht weit. Am Lüssumer Ring 55 ist der Kunstladen von Dorothea Sander. An der Schaufensterscheibe kleben gemalte Bilder. Angemalte Tannenzapfen sind auf Holzblöcke geklebt, aufgeknackte Walnusshälften und Holzklötzchen hinzugefügt.
Helga Schönfeld gefällt das Konzept. Im Kunstladen kann jeder sein, wie er oder sie ist, und tun, was er oder sie kann. Ein Kind hat einen Text in ungelenker Handschrift auf ein Blatt Papier geschrieben. Dass er nicht fehlerfrei ist? Was soll’s! Wichtig ist, dass es sich überhaupt getraut hat, und so kann nun jeder am Schaufenster lesen, dass es einmal ein Mädchen gab, „und das Mädchen libte den Sonen untergang und for alem libt si die Kirsch blüten“.