Am Balkon hängt ein schwarzes Dreieck, groß wie ein Badehandtuch ist es. Irgendjemand hat es dort befestigt, so wie es aussieht, schon vor einiger Zeit. Was es wohl bedeuten mag? „Das war Ausdruck unserer Trauer“, sagt Mihdiye Akbulut, „und es war Ausdruck unseres Protests.“
Den Rundgang mit dem WESER-KURIER durch ihr Quartier hat Mihdiye Akbulut in diesem Moment beendet. Sie und ihr Besuch sind wieder dort angekommen, wo sie zwei Stunden zuvor gestartet waren: am OTe-Zentrum an der Otto-Brenner-Allee 44/46. Dieser Klotz von Bau ist Kopf, Herz und Bauch von Tenever, könnte man sagen. Hier leben unter anderem Ärzte und ein Internetcafé, Anwälte und eine Secondhand-Tauschbörse, die Polizei und eine Kreativwerkstatt unter einem Dach. Das OTe-Zentrum ist Mihdiye Akbuluts zweites Zuhause.
Mehrere Arbeitsplätze standen hier im Kiez in diesem Jahr schon auf dem Spiel. Erst hatte die Bundesregierung den Jobcentern Gelder gekürzt für das, was einmal die Ein-Euro-Jobs waren, AGHs, Arbeitsgelegenheiten, wie sie jetzt heißen. Von denen gibt es im Quartier viele. Dann war bekannt geworden, dass es beim Bremer Jobcenter Buchungsfehler gegeben hatte. „Wir waren alle geschockt“, sagt Akbulut, „manche haben sogar geweint.“ Aus Angst um ihre Zukunft.
Für das Internetcafé und das Café Gabriely, die Secondhand-Börse mit der Kreativwerkstatt und das Café 17 sollte plötzlich kein Geld mehr da sein. „Wir haben Unterschriften gesammelt, wir haben uns an die Politik gewandt“, erinnert sich Akbulut. Deshalb auch im Sommer die schwarzen Dreiecke am Balkon. Das Schlimmste ist fürs Erste abgewendet. „Aber wir müssen abwarten, wie es 2025 weitergeht.“

Lieblingsort Café Gabriely: „Hier begegnet man sich“, sagt Mihdiye Akbulut, „hier kommt man ins Gespräch.“
So ist das, wenn man wie Mihdiye Akbulut in Tenever lebt. Persönliches wird hier schnell politisch. Zwischenmenschliches hat hier immer auch eine gesellschaftliche Dimension. Sie selbst habe das zu einem politisch denkenden Menschen gemacht, sagt sie, „ganz automatisch“.
Von Tenever haben viele Bremer ein klares Bild: Hier sind die Häuser hoch, die Nationalitäten vielfältig, die Sprachen fremd, und das Geld ist knapp. Tatsächlich leben in Tenever 10.000 Menschen. Sie kommen aus 90 Nationen. Sieben von zehn Bewohnern haben einen Migrationshintergrund, bei den Jugendlichen sind es sogar 90 Prozent.

Ringsherum Hochhäuser, in der Mitte eine grüne Oase: Mihdiye Akbulut am Spielplatz Kaiserslauterner Straße.
Am liebsten würde Mihdiye Akbulut alle Bremer einmal nach Tenever einladen. Damit sie sehen können, was sie selbst sieht, wenn sie in ihrem Kiez unterwegs ist. Sie hat ihre Begleiter zu einem Hügel geführt. Ein großzügiges grünes Fleckchen inmitten der Häuserblocks, die nicht selten zehn, zwölf, vierzehn und mehr Stockwerke hoch sind. „Hierher müssen Sie mal im Sommer kommen“, sagt sie, „Sie werden begeistert sein von dem bunten Leben, das dann hier tobt.“
Der Grashügel, an dessen höchstem Punkt eine große Metallkugel versenkt ist, die noch halb aus dem Boden schaut, ist terrassenförmig angelegt. „Hier auf den Stufen sitzen die Menschen bei schönem Wetter“, sagt Akbulut, „sie reden, sie haben Spaß, sie schauen ihren Kindern beim Spielen zu.“ Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Klettergeräte, einen Sportpark mit Reckstangen von der Initiative „Hood Training“, gleich daneben den sogenannten Fit Point, der jeden Tag Sportangebote für Familien macht. Am Drachenspielplatz Pfälzer Weg hat vor ein paar Wochen noch das Tenever-Sommerfest stattgefunden.
„Das ist meine Welt“, sagt Mihdiye Akbulut, als sie im Café Gabriely sitzt. Mehrmals in der Woche kommt sie hierher. Dafür muss sie von ihrem Arbeitsplatz im OTe-Zentrum nur eine Etage nach unten, „meine Lieblingsgastro“. Auf wenigen Quadratmetern erlebt sie hier, was Tenever für ihr Gefühl ausmacht. Die Gäste sind ein Querschnitt aus dem Quartier, Jung und Alt, deutsch und arabisch, türkisch und osteuropäisch.

Arbeitsplatz Mütterzentrum: Mihdiye Akbulut ist pädagogische Mitarbeiterin und gibt unter anderem Unterricht im Alltagstraining, einer Art Schule für Erwachsene.
Im Café Gabriely kommen Menschen zusammen, die es sich nicht leisten können, viel Geld für ausgefallene Menüs auszugeben. Pommes Currywurst gibt es hier für 4,50 Euro, die Pizza Margherita für sechs Euro, den Becher Kaffee und die 0,3-Cola für 1,50 Euro. Zur Mittagszeit wechselt jeden Tag das Menü. Diese Woche zum Beispiel stehen gefüllte Auberginen mit Rinderhackfleisch, Putengulasch, chinesische Nudeln und am Freitag, natürlich, Fisch, als Frikadelle auf der Karte. „Hier begegnet man sich“, sagt Akbulut, „hier kommt man ins Gespräch.“
Das hat sie schon vor 27 Jahren an Tenever gepackt. Bis 1997 lebte sie bei Lüneburg, in einem Dorf, von dem sie sagt, dass sich die Menschen dort nur dann einen „Guten Morgen“ gewünscht hätten, wenn sie sich auch kannten. Dagegen Tenever. Offen, bunt, nicht ohne Probleme zwar, aber hier wollte sie hin. „Natürlich hat man mir anfangs gesagt, dass ich ab 17 Uhr nicht mehr allein nach draußen gehen sollte“, sagt sie. Aber noch nie sei ihr etwas passiert.
Längst kennt fast jeder hier die 50-Jährige. Mihdiye Akbulut lebt mit ihrer Familie in einem der Hochhäuser, im neunten Stock. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder, die beiden Älteren studieren, das dritte macht in einem Jahr Abi. Sie selbst hat mit 30 an der Uni Bremen noch Erwachsenenbildung studiert und arbeitet jetzt als pädagogische Mitarbeiterin im Mütterzentrum, netzwerkt, macht Öffentlichkeitsarbeit und ist nicht selten Vermittlerin zwischen den Anliegen der Quartiersbewohner und den Institutionen. Sie hilft Menschen, sich an das Leben in Tenever zu gewöhnen, so wie ihr einst selbst geholfen worden ist.

Von 100 auf null: Wenn Mihdiye Akbulut Zeit für sich haben will, steuert sie ihren Stammplatz am Tenever See an. Hier kann sie abschalten.
„Wir gehen gleich noch hoch an meinen Arbeitsplatz“, sagt sie. Dort will sie zeigen, was sie um diese Zeit macht, wenn sie nicht gerade mit der Zeitung durch ihr Quartier zieht. Aber weil der Reporter vorher noch etwas zur Geschichte des Café Gabriely wissen will, organisiert Akbulut fix ein Kennenlernen mit Zahra Zand, die als eine der Anleiterinnen im Café Gabriely dafür sorgt, dass der Laden läuft. Auch im Gespräch mit der gebürtigen Iranerin dauert es nicht lange, bis sich alles um die bedrohten AGH-Stellen dreht. „Schreiben Sie das ruhig auf“, sagt Zand. Die Politiker und Entscheider sollen wissen, was ein Wegfall dieser Jobs für Tenever bedeuten würde.
Ein paar Minuten später wird klar, was die Frauen meinen. Mihdiye Akbulut hat sich eine Etage höher im Mütterzentrum in einer Art Klassenraum vorne am Pult aufgestellt. Hinter ihr steht das Thema der Stunde an der Tafel, „Mentale Gesundheit“. Vor ihr sitzt mehr als ein Dutzend Frauen aus neun Ländern. „So, ihr Lieben“, sagt sie, „wer kann mir ein Beispiel dafür geben, warum mentale Gesundheit so wichtig ist?“ Es dauert nicht lange, und die Frauen reden über Stress, Stressbewältigung und Selbstwertgefühle. „Alltagstraining“ heißt das Angebot, es gibt es für Frauen und für Männer. Eine Schule für Erwachsene.
Man muss sich nicht anstrengen, um sich vorstellen zu können, dass das, was Mihdiye Akbulut leistet, ganz schön kraftraubend sein kann. Wenn sie merkt, dass sie einen Moment für sich braucht, dann muss sie nicht lange überlegen, wohin sie geht. Vom Mütterzentrum sind es gut zehn Gehminuten bis zum Tenever See. Hier, nahe der A27, hat sie ihr Stammplätzchen, „meine Bank“, mit Blick auf das Wasser. Aale, Brassen, Hechte und Karpfen sollen hier schwimmen. Liguster und der Blutrote Hartsiegel säumen das Ufer.
Unter Birken, Eichen, Weiden und Pappeln „lasse ich meine Seele baumeln“, sagt Akbulut, „und hier hat auch alles angefangen.“ Ihre erste Stelle hatte sie im angrenzenden Café 17. Auch jetzt dauert es nicht lange, bis sie erkannt wird. Der nächste Plausch zwischen Tür und Angel. Für Mihdiye Akbulut einmal mehr der Beweis, dass es stimmt, was die Menschen in Tenever über sich und ihren Kiez sagen: Die Hochhäuser begegnen sich nicht, die Menschen aber wohl.