Dorothea Sander: Das beinhaltet mehrere Bestandteile. Zum einen lernen Frauen jeglichen Niveaus hier Nähen. Darunter sind Frauen, die noch niemals genäht beziehungsweise an einer Nähmaschine gesessen haben. Andere haben aus ihrer Heimat schon Näherfahrungen mitgebracht. Allerdings gelten in Deutschland andere Standards. Die werden in diesem Projekt gelehrt. Darüber hinaus arbeiten die Frauen dann auch an konkreten Projekten für das Theater, also an Kostümen.
Wie kam es dazu?Ich bin mit der Modedesignerin und Kostümbildnerin Christin Bokelmann seit gut 15 Jahren befreundet. Wir haben uns bei einem Tanzprojekt in Bremen kennengelernt. Damals habe ich für den Bereich Bildende Kunst einen Kubus gebaut. Christin sprach mich an, ob wir in Sachen Kostümanfertigung eine Kooperation bilden könnten.
Und da gibt es derzeit ein konkretes Projekt?Ja. Wir nähen gerade Masken aus alten Nylonstrumpfhosen. Dazu gibt es Hüte, und dann werden diese noch eingesprüht, sodass am Ende morbide Hexen, beziehungsweise böse Frauenfiguren entstehen (lacht). Wir haben auch schon Sonnenblumen auf Clownskostüme genäht. Das war eine ganz schön friemelige Arbeit.
Für welches Theaterstück sind diese Kostüme?Derzeit nähen wir für eine Produktion mit der süddeutschen Philharmonie, die den zweiten Preis gewonnen hat – mit der Auflage, ein Vermittlungsprojekt in Angriff zu nehmen, also mit Schülern zu arbeiten. Die Aufführung ist in Konstanz.
Da gibt es vermutlich nicht viel Geld für eine Produktion?Bei freien Theaterproduktionen ist meistens nicht viel Geld vorhanden. Deshalb kam ja auch von Christin Bokelmann die Anfrage an mich, ob wir für Theaterproduktionen nähen können. Für die aktuelle Produktion werden im Übrigen 300 Kostüme benötigt. Da ist viel Improvisation nötig, vieles wird auch aus dem Fundus genommen und umgearbeitet.
Wie sind Sie denn überhaupt auf die Idee für dieses Projekt gekommen?Das hat sich so ergeben: Ich bin ja schon lange mit Projektarbeit beschäftigt. War schon in Delmenhorst, in Bremen in der Vahr, fast in allen Stadtteilen, auch in Lüssum. Da hatte ich nicht immer eine feste Anlaufstelle beziehungsweise Ladenräume. Ich habe auch schon in einer Wohnung in einem Abrisshaus am Lüssumer Ring Projekte betreut, habe vor zehn Jahren dann den Kunstladen hier an der Lüssumer Heide übernommen.
Das heißt, Sie sind im Quartier schon bekannt.Ja, auch dafür, dass ich Projekte anbiete, die aus dem Lebensalltag der hier lebenden Frauen stammen: Nähen und Essen zubereiten. So habe ich diverse Kochprojekte, unter anderem machen wir gemeinsam ein Kochbuch, mit Linoldruck. Das ist nicht so einfach, wie man sich das vorstellen könnte. Denn viele Frauen haben nur kurz oder gar keine Schule besucht, das heißt, es gibt viele Analphabetinnen. Dazu mangelnde Deutschkenntnisse, da ist das Erstellen eines Kochbuches eine schwere Aufgabe.
Also lernen die Frauen bei Ihnen Lesen und Schreiben beziehungsweise Deutsch?Das ist für viele sogar ein Anreiz, um in die angebotenen Projekte zu kommen.
Wie werden die Frauen auf Sie aufmerksam?Das ist zumeist Mund-zu-Mund-Propaganda. Die Frauen machen einfach die Ladentür auf und fragen, ob sie mitmachen können.
Wenn so wenige Teilnehmerinnen Deutsch sprechen, wie verständigen Sie sich dann mit ihnen?Mit Händen und Füßen, oder es gibt Frauen, die können Deutsch und betätigen sich als Übersetzerinnen, andere besuchen parallel Deutschkurse im Haus der Zukunft. Da gibt es beispielsweise die junge Frau Anfang 30 aus Afghanistan, sehr intelligent, aber in ihrer Heimat durfte sie nur fünf Jahre zur Schule gehen. Über Christin Bokelmann habe ich ihr schon einmal ein Praktikum vermittelt. Sie spricht schon sehr gut Deutsch, steht gerade vor einer Prüfung, möchte ihren Hauptschulabschluss nachholen und dann eine Berufsausbildung machen. Ihr Wunsch ist es, mit Kindern zu arbeiten, sie strebt erst einmal eine Ausbildung zur Sozialassistentin an. Sie gilt bei den anderen Frauen als Vorbild, macht für die Projekte hier vor Ort auch immer Werbung unter den Frauen.
Warum gilt sie als Vorbild?Nun, weil viele der Frauen aus ihrer Heimat nichts anderes kennen, als zu Hause zu sitzen, Kinder zu kriegen. In den Projekten sehen sie, dass es auch anders geht. Gerade afghanische und syrische Frauen sagen oft, dass sie hier in Deutschland endlich eine Zukunft für ihr eigenes Leben haben. Allerdings sind dies dann immer erst ganz kleine Schritte, denn häufig arbeiten die Männer dagegen. Die junge Frau zeigt, dass es noch mehr gibt. Frauen müssen nicht nur mit Putzen Geld verdienen, wenn sie nach Deutschland kommen, weil sie sonst nichts können. Sie müssen nicht ständig ein Kind nach dem anderen bekommen und sich dann nur noch um Haus, Herd und Mann kümmern. Doch, dass die Frauen hier ebenfalls lernen, gegebenenfalls ein selbstbestimmtes Leben zu führen, passt so manchem Ehemann daheim nicht. Das bringt ihn in die Bredouille. Das gibt auch durchaus Ärger. In einem Fall beispielsweise meldeten sich die Eltern aus der Heimat des Mannes und wiesen ihn an, seiner Frau noch ein paar Kinder zu machen, damit sie zu Hause bleibt.
Den Ärger bekommen Sie mit?Ja, denn die Frauen können sich hier auch untereinander austauschen, haben Ansprechpartner, die ihre Probleme verstehen. Es ist einfach schön zu sehen, wie die Frauen hier aufblühen, sich teilweise ein Strahlen auf ihren Gesichtern zeigt, wo vorher keins war. Darüber hinaus bieten wir neben dem Austausch in einer Gemeinschaft sowie einer möglichen beruflichen Perspektive auch kulturelle Angebote.
Die da wären?Nun, zum einen gemeinsame Ausflüge, Museums- und Theaterbesuche, im Rahmen des Projektes ,Kostümkunst' gibt es den Blick einmal hinter die Kulissen. Wir waren schon bei Theateraufführungen, das ist für die Frauen wie eine andere Welt, das kommt sehr gut bei ihnen an.
Sie entdecken also positive Entwicklungen bei den Frauen, die seit zwei, drei Jahren in Deutschland sind und Ihre Projekte besuchen?Ja, und nicht nur bei denen. Es gibt einige Türkinnen, die hier schon lange leben und sich wundern, dass diese noch nicht lange hier lebenden Frauen so gut Deutsch sprechen, teilweise viel besser, als eben jene Türkinnen. Die entwickeln plötzlich den Ehrgeiz, die Sprache selbst besser zu lernen. Beispielsweise die 65-jährige Türkin, die seit 1970 hier lebt, und gesteht, sie habe sich um die Sprache nie gekümmert. Die besucht jetzt einen Deutschkursus.
Das Interview führte Iris Messerschmidt.Dorothea Sander (60),
geboren in Cloppenburg, ist Lehrerin für Deutsch und textiles Gestalten. Sie hat ein Diplom der Hochschule für Bildende Künste in Bremen. Seit 2001 arbeitet Sander als freie Künstlerin, übernimmt kulturpädagogische Projekte in Delmenhorst, Cuxhaven und Bremen. Mal hat sie es mit Kindern zu tun, mal mit Jugendlichen und Erwachsenen.
Damit sich die Bürokratie in Grenzen hält, hat Dorothea Sander den Vorschlag bekommen, statt einem „großen“, vier kleine Anträge zu stellen. So wird es neben den bereits laufenden Projekten „Kostümkunst I“ und „Kostümkunst II“ nun das dritte und vierte Projekt geben. Je sieben Frauen (so viele Nähmaschinen gibt es im Kunstladen in Lüssum), Alleinerziehende, Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen, lernen Nähen beziehungsweise deutsche Nähstandards (Arbeiten mit Schnittmustern etc.). Die Laufzeit für die Projekte III und IV: 1. Februar 2020 bis 31. Januar 2022 sowie 1. März 2020 bis 29. Februar 2022. Die Mittel (knapp 20 000 Euro pro Projekt), kommen aus dem EU-Topf, Lokales Kapital für Soziale Zwecke (LOS). In diesem Zusammenhang soll es auch noch einen Termin bei „FAW“, Frauen in Arbeit und Wirtschaft, geben, um den Projektteilnehmerinnen Wege aufzuzeigen über berufliche Perspektiven, Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Möglichkeiten des beruflichen Wiedereinstiegs, Existenzgründungsvorhaben, Anerkennungsverfahren von ausländischen Bildungs- und Berufsabschlüssen, Zukunftsbranchen.
Darüber hinaus laufen über Dorothea Sander noch weitere Projekte: unter anderem Backkunst, backen. Im 14-tägigen Wechsel backen Frauen im Backhaus eigene oder mitgebrachte Rezepte nach. An anderen Terminen werden diese Rezepte in den Computer eingegeben, um anschließend im Linoldruck ein Kochbuch zu erstellen. In „Alle Portraits sind farbig“ werden Porträts auf unterschiedliche Art hergestellt. Dann gibt es noch das BBK-Projekt „Wir können Kunst“, in dem Kinder von sieben bis 14 Jahre Drucktechniken lernen und Reime anfertigen. Ziel: Ein Buch. Gemeinsam mit Gertrud Redecker bildet Dorothea Sander eine Kulturprojekte GbR, aus Win-Mitteln gibt es da Geld unter anderem für das Projekt „Soziokultur fördert das Zusammenleben“, das besteht aus vielen kleinen Projekten wie Theaterspiel, Fahrten, Treffen, Fan-Shop für Lüssum, in dem Frauen und Kinder Fan-Projekte wie Postkarten, Buttons und mehr für den Stadtteil anfertigen.