Borgfeld. Bis zum Jahr 2030 werden in Deutschland 182.000 Pflegekräfte zusätzlich benötigt. Das ergeben Berechnungen für den Pflegereport der Barmer Krankenkasse, der Anfang Dezember in Berlin vorgestellt wurde. Hintergrund ist, dass die Zahl der Pflegebedürftigen von derzeit 4,5 Millionen auf rund sechs Millionen steigen dürfte. Bereits heute fehlten tausende Pflegekräfte und tragende Konzepte, wo diese Menschen herkommen sollen, sagt Kassenchef Christoph Straub. Er warnt, Deutschland sei auf dem besten Wege, in einen prekären Pflegenotstand zu geraten.
Die Lage sei schon jetzt sehr angespannt, berichtet Nicole Blankenburg, während sie in der Tagespflegestation im Stiftungsdorf in Borgfeld das Frühstück vorbereitet. Eine Pflegefachkraft für 30 Patienten – so etwas habe sie in anderen Einrichtungen schon erlebt. In Borgfeld hingegen sei die Welt noch in Ordnung, so die Pflegedienstleiterin. Doch auch hier habe die Pandemie ihrem Berufsstand stark zugesetzt: Stets wechselnde Mitarbeiterinnen aufgrund krankheitsbedingter Ausfälle und die Umsetzung der inzwischen 27. Auflage des neuen Infektionsschutzgesetzes binnen eines Jahres hätten Spuren hinterlassen.
Kaum Zeit für Gespräche
So könne es nicht weitergehen, sagt die 42-jährige gelernte Krankenschwester. Für Gespräche und persönliche Zuwendung hätten sie immer weniger Zeit. "Während der Pandemie haben zahlreiche Kolleginnen aus Überlastung ihrem Job den Rücken gekehrt", berichtet die gebürtige Berlinerin, die seit über 20 Jahren in der Pflege arbeitet.
Zwar heißt es, die Politik wolle nachsteuern: Steuererleichterungen und einen Corona-Bonus für Pflegekräfte hatte die neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP bereits im Koalitionsvertrag festgehalten. Für den Bonus will die Ampel eine Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Pflegekräfte mit kleinen Kindern sollen einen Anspruch auf familienfreundliche Arbeitszeiten bekommen. "Alles gut und schön", sagt die Pflegedienstleiterin der Wohngemeinschaft Demenzerkrankter sowie der Tagespflege in Borgfeld. "Doch hinzukommen müssen einfache und vor allem schnelle, praktische Unterstützungen, die die Pflegerinnen und Pfleger kurzfristig entlasten."
Keine einheitlichen Tarife
Blankenburg arbeitet Vollzeit und hat zwei Kinder groß gezogen, "ohne familiäre Unterstützung wäre das gar nicht möglich gewesen", sagt die 42-Jährige. Sie wünsche sich Kitas, die um 5.30 Uhr öffnen und flexiblere Betreuungsmöglichkeiten bieten. Außerdem müsse es einheitliche Tarife in der Pflege geben. "Zurzeit gibt es einen Mix aus Pflegekräften, die aus einem Springer-Pool kommen, und Angestellten von Zeitarbeitsfirmen". Die verdienten oft viel mehr als festangestellte Kräfte in Pflegediensten. "All das ist kontraproduktiv und bietet keine Kontinuität, die unsere Patienten dringend brauchen."
Blankenburg hat konkrete Vorschläge, wie die Politik ihren Berufsstand unterstützen könne. "Gerade in Quarantäne-Situationen wäre es gut, wenn wir Hilfe von denjenigen hätten, die beispielsweise durch die Pandemie keinen Job mehr haben. Es würde helfen, wenn sie bei der Versorgung der Seniorinnen und Senioren helfen könnten: Angehörige informieren, Arzttermine für Patienten vereinbaren, Frühstück verteilen, für diejenigen, die isoliert werden müssen."
Corona in der Wohngemeinschaft
Der Pflegerin geht es darum, als Gesellschaft in der Pandemie dichter zusammenzustehen. Viele Bewohner seien einsam. "Berührungen sind verboten, eine Dame sagte neulich, warum muss ich schon wieder eine Maske tragen, bin ich so eine Aussätzige?" Die ältere Generation habe im Krieg viele Verletzungen davongetragen, die in der Pandemie wieder eine Rolle spielen würden. "Wir brauchen mehr Zeit, um uns um die Menschen zu kümmern, Hände zu halten, ihnen zuzuhören und gut zuzureden."
Ein Corona-Fall in der Wohngemeinschaft: Serienbriefe an die Angehörigen werden verschickt, alle Pflegekräfte hängen sich ans Telefon, um die Familien zu informieren. "Viele haben Verständnis für die Situation, aber insgesamt macht sich viel Unsicherheit breit", sagt Blankenburg. Manche Angehörige bitten um eine Zusicherung, dass sie an Weihnachten ins Stiftungsdorf kommen können. "Das lässt sich natürlich nicht versprechen. Die Situation ändert sich täglich."
Forderung nach Reformen
Trotz aller Hektik in Ausnahmesituationen wie diesen sei es immer wieder wichtig, Ruhe auszustrahlen: "Menschen, die an Demenz erkrankt sind, brauchen Zuverlässigkeit, Kontinuität und Sicherheit." Ein krasser Gegensatz sei das zum Pandemiealltag. "Damit wir das bewältigen können, brauchen wir Reformen – und zwar jetzt!", ruft Blankenburg der Politik zu. Die Lage sei angespannt, "aber nicht hoffnungslos", murmelt sie hinter ihrer FFP2-Maske und lächelt mit den Augen.