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Geschäftsaufgaben in Findorff Was Einzelhändlern zu schaffen macht

Zwei Bankfilialen und Moden Mehlgarten sind schon zu, demnächst kommt das Traditionsgeschäft Kindervater noch dazu: In Findorff gibt es Lücken in der Geschäftswelt. Warum ist das so und was hat das für Folgen?
14.09.2023, 05:00 Uhr
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Von Anke Velten
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Hat der Einzelhandel in den Stadtteilen keine Zukunft mehr? Wo bleibt sie, die neue Generation mutiger junger Leute, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen? Und wie könnte man verhindern, dass die Einkaufsstraßen veröden? Beispiel Findorff: Die beiden großen ehemaligen Bankfilialen an der Admiralstraße, Moden Mehlgarten an der Münchener Straße, demnächst Kindervater – in der Findorffer Geschäftswelt haben sich in den vergangenen Monaten und Jahren große Lücken aufgetan, von denen man noch nicht sagen kann, wie und wann sie geschlossen werden. Es gibt viele Gründe, die gegen Selbstständigkeit im Einzelhandel sprechen. Aber andere sprechen dafür.

Die Lage

Viele Branchen litten unter der allgemeinen Kaufzurückhaltung und dem Wettbewerb mit digitalen Anbietern und Plattformen, sagt Karsten Nowak, zuständiger Geschäftsführer für den Bereich Einzelhandel, Existenzgründung und Unternehmensförderung bei der Handelskammer Bremen. Dass bestehende Unternehmen keine Nachfolger finden, habe auch mit dem Arbeitsmarkt zu tun, der gegenwärtig „so attraktiv und flexibel“ sei, dass viele Menschen eine abhängige Beschäftigung vorzögen. Der Mangel an Nachfolgern treffe die Wirtschaft aber nicht nur in Bremen, sondern bundesweit, so Nowak. „Leider gehen uns durch diese Entwicklung auch Unternehmen verloren, von denen ein Nachfolger durchaus gut leben könnte. Vielen erscheinen die Risiken offenbar zu hoch.“

Die Selbstständigkeit

Wer selbstständig ist, arbeitet selbst und ständig. Eine Binsenweisheit, die auch Katrin Grosch bestätigen kann. In ihrem Falle heißt das: „Öffnungszeiten von täglich zehn Stunden und mehr, ohne Mittagspause. Bei einer Sechs-Tage-Woche reden wir über 60 Stunden reine Öffnungszeit“, erklärt Grosch, die seit sieben Jahren ihr „Findorffer Käsekontor“ führt. Dazu kommen täglich rund eineinhalb Stunden Vorbereitungs- und Nachlaufzeit, sowie die umfangreiche Büroarbeit, die nicht während der Öffnungszeiten erledigt werden könne.

„Das ist gegen jede Work-Life-Balance“, bestätigt Frank Brunhorn aus der Geschäftsführung des Technikfachgeschäfts EP Brunhorn, das kürzlich sein 40-jähriges Bestehen feierte. „Dass es enorm viel Arbeit sein wird, damit habe ich gerechnet“, erklärt Nora Osler, die Anfang 2020 den Unverpackt-Laden Füllerei an der Borgfelder Straße eröffnete. „Womit ich weniger gerechnet habe: wie komplex und divers die Arbeit und die Verantwortlichkeiten sind.“

Das Einkommen

Das Monatsgehalt ist keine feste Größe. „Es gibt Monate, in denen alles gut läuft, und andere, in denen du nicht weißt, wie du deine Rechnungen bezahlen sollst“, sagt die Findorffer Weinhändlerin Gabriele Greger-Gleitze. „Ich kann selbst gut von meinem Geschäft leben – aber eine Familie könnte ich damit nicht ernähren.“ Auf sich gestellt sind die Selbstständigen auch im Krankheitsfall, wie sie selbst gerade erfahren hat. Die Absicherung gegen krankheitsbedingte Ausfälle sei extrem teuer. „Nach einem Unfall wurde ich operiert. Zwei Tage später stand ich mit Arm in der Schlinge wieder im Laden.“ Zudem werde der Mittelstand steuerlich „geschröpft bis zum Umfallen“.

Die Kosten

Abschreckend seien auch die Mieten für gewerbliche Objekte, sagt Käsehändlerin Grosch. „Viele Vermieter haben das Bedürfnis, ein Vermögen bei Vermietungen an Einzelhandel zu verdienen.“ So würden von vorn herein Konzepte ausgeschlossen, die gar nicht so viel Geld generieren könnten, ergänzt Osler. Man könne ja mal ausrechnen, wie viele Tassen Kaffee verkauft werden müssen, um Mieten über 1500 Euro im Monat plus erhebliche Nebenkosten zu bezahlen. Sie wünsche sich einen Wandel bei den Vermietenden, die sich ihrer Verantwortung für Entwicklungen im Stadtteil bewusst sein müssten, sagt Osler. „Und da sehe ich auch die Politik in der Pflicht, mehr auf Vermietende zuzugehen und sich einzumischen.“

Die Politik

Die Bedürfnisse der Stadtteilwirtschaft würden von der Politik ignoriert. Zunehmende Bürokratie, fehlende Finanzierungsmöglichkeiten und zusätzliche Belastungen wie beispielsweise der „völlig unnötige vorübergehende Wegfall der sogenannten Brötchentaste“ seien kontraproduktiv, sagt Handelskammer-Vertreter Nowak. Es fehle an politischer Beachtung und Wertschätzung für diesen sehr wichtigen Teil der Wirtschaft, der wie selbstverständlich dafür sorge, dass der Alltag funktioniert.

Die Politik müsse sich dafür einsetzen, permanente Mietkostensteigerungen einzudämmen, Lohnnebenkosten und sonstige Abgaben nicht ins Unermessliche steigen zu lassen, fordert Katrin Grosch. Zudem dürften nicht ständig neue potenzielle Einzelhandelsflächen geschaffen werden, wenn die vorhandenen schon nicht ausreichend bespielt würden. Nicht zuletzt müsse sich die Politik für einen fairen Wettbewerb mit dem Online-Handel einsetzen, so Grosch, die auch dem Findorffer Beirat angehört.

Beispiel: „Kostenfreie Retouren im Versandhandel müssen untersagt werden.“ Es gebe auf jeden Fall politische Möglichkeiten, die Rahmenbedingungen für stationäre Geschäfte zu beeinflussen“, bestätigt Nowak. „Wenn wir die Lebensqualität in den Einkaufstraßen der Stadtteile erhalten wollen, sollten wir stärker auf die Bedürfnisse der Stadtteilwirtschaft hören. Andernfalls sehe ich die Gefahr, dass wir gute und etablierte Unternehmen noch schneller und ohne adäquaten Ersatz verlieren werden.“

Die Perspektiven

Für den Handel in Findorff seien die Aussichten trotz der angespannten Lage im Einzelhandel im Stadtteilvergleich überdurchschnittlich, „weil der Stadtteil insgesamt sehr attraktiv und lebendig ist“, lautet die Einschätzung von Karsten Nowak. Gute Chancen sehe er beispielsweise für den Bereich Lebensmittel und Feinkost, der weniger mit der Konkurrenz von Online-Anbietern zu kämpfen habe. Auch der Dienstleistungsmarkt sei weiterhin sehr gefragt. „Selbstverständlich wären auch zusätzliche Fachgeschäfte wünschenswert. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sich die Investition in ein solches Vorhaben auch wirtschaftlich lohnen muss.“

Das Fazit

Sie könne sehr gut verstehen, dass die Umstände viele Menschen vom Weg in die Selbstständigkeit abschrecken, sagt Greger-Gleitze, die vor 14 Jahren ihren Job als Sozialpädagogin an den Nagel hängte, um den Findorffer Weinladen zu übernehmen. „Für mich war es das Beste, was mir passieren konnte.“ Mit ihren Produkten könne sie täglich viele Menschen glücklich machen. „Und wir bekommen auch ganz viel an Positivem von unseren Kundinnen und Kunden zurück.“

Auch Nora Osler betont: „Ich würde mich auf jeden Fall wieder selbstständig machen. Denn es bereitet auf der anderen Seite extrem viel Freude, bietet unendlichen Gestaltungsspielraum und macht es mir möglich, wirksam zu sein.“ Katrin Grosch sagt: „Ich habe den Schritt in die Selbstständigkeit niemals bereut. Ich arbeite mit den großartigsten Produkten der Welt und kenne die Menschen, Geschichten und Familien dahinter.“ Was die Zukunft des Einzelhandels betreffe, sei sie fest davon überzeugt, „dass wir weg müssen von gedankenlosem und maßlosem Konsum.“ Online-Handel könne nicht die Lösung sein. „Die Gesellschaft braucht den Zusammenhalt mit persönlichem Kontakt und Austausch."

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