Im großen Zirkus-Dorf wird es jeden Tag lebendiger, denn an diesem Sonnabend steht die neue Roncalli-Premiere von „All for art for all“ in Bremen bevor. 80 nostalgische Zirkuswagen des weltberühmten Circus-Theaters sind bereits Mittwoch und Donnerstag auf die Bürgerweide gerollt, damit die Zirkusfamilie einziehen und die Innenausstattung des großen Zirkuszelts beginnen konnte. Zunächst allerdings Huckepack auf der Schiene mit einem 750 Meter langen Sonderzug aus München, dem letzten Spielort. Das Abladen der liebevoll restaurierten Wagen mit Roncalli-Schriftzug im Neustädter Hafen, die etwa sechs Monate in der Roncalli-Manufaktur authentisch restauriert wurden, war schon vorab eine besondere Vorstellung.
Das laute Rumpeln der alten Zirkuswagen beim Überfahren der eingeschobenen Holzklötze zwischen den Waggons liefert eine authentische Geräuschkulisse für die Reise in die Vergangenheit. Steven Jones zieht zwei Raritäten mit dem roten Roncalli-Schlepper vorwärts über die Rampe auf die Straße: den mindestens 50 Jahre alten Wagen Nummer 18 und den originellen Küchenwagen mit Oberlicht vom „Café des Artistes“.

Zirkusverlademeister Steven Jones: "Das ist mein Vorteil, ich kann so viele alte Sachen fahren."
Der gebürtige Engländer fährt recht flott, der letzte Zirkusverlademeister in Deutschland verfügt über 30 Jahre Routine hinterm Schleppersteuer. Das Aufladen sei herausfordernder, gesteht Jones: „ . Und immer gucken, dass man gerade bleibt.“ Das Lieblingsfahrzeug des Treckerfahrers ist der Hanomag Baujahr 1954. Der rote Oldie, mit dem Steven Jones früher die Wagen gezogen hat, parkt neben dem Gleis, er dient nur als Kulisse. „Wir mussten modernisieren“, seufzt der 61-jährige Verlademeister leicht wehmütig – und gibt wieder Gas.
Über eineinhalb Tage erstreckt sich das Entlade-Prozedere im Zollhafen. In ruhiger Routine. „Wir ziehen ja quasi einmal im Monat komplett um“, sagt ein Helfer. Als einziger Zirkus in Europa transportiert Roncalli Garderobe, Schneiderei, Küchen-, Wohn- und Materialwagen auf der Schiene. Wegen der Kosten, vermehrt auch wegen der Nachhaltigkeit, so PR-Koordinatorin Antonia Walter. „Viele der älteren Wagen würden so lange Strecken über die Autobahn gar nicht schaffen.“
Als Steven Jones die Rampe erreicht, springt einer der 15 Mitarbeiter des Logistikteams aufs Trittbrett hinten auf. Er ist fürs Ankuppeln der Wagendeichseln zuständig und schnappt sich auch gleich die Nummernschildkette, nachdem der Verlademeister die nächsten beiden Zirkuswagen auf dem Parkplatz abgestellt hat. Sofort fährt eine Zugmaschine vor. Das Zweiergespann wird angehängt. In 20 Minuten soll es am Spielort eintreffen, wo das blau-beige Roncalli-Zelt bereits seit einigen Tagen aufgebaut steht.
16 Meter über dem Boden
Das Wahrzeichen des Circus-Theaters hat einen Durchmesser von 36 Metern, sein höchster Punkt liegt 16 Meter über dem Boden. Sechs Roncalli-Mitarbeiter und zwölf zusätzlich engagierte Kräfte haben unter der Regie von Daniel Nekat zwei Tage nur für den Zeltaufbau benötigt − und viel Muskelkraft. Weil Roncalli in diesem Jahr zum ersten Mal außer der „All for art for all“-Show noch den 1. Bremer Weihnachtscircus präsentieren will, musste die Bürgerweide nach Aussage des technischen Betriebsleiters völlig neu vermessen und für zwei verschiedene Zeltaufbauten und Fassaden vorgeplant und vorbereitet werden.

Der Roncalli-Schlepper zieht immer zwei nostalgische Zirkuswagen pro Durchgang über mehrere Eisenbahnwaggons über eine Rampe auf den Parkplatz im Neustädter Hafen.
„Wir haben 200 Anker geschlagen“, präzisiert Daniel Nekat. „Normalerweise sind es um die 80.“ Seine Männer mussten jede der 1,40 Meter hohen, etwa 30 Kilogramm schweren Eisenstangen einzeln mit einem großen Hammer 1,20 Meter tief in die Erde rammen. Danach haben sie die vier zentralen und längsten Masten mit Drahtseilen verkabelt, mithilfe eines Gabelstaplers aufgerichtet und im nächsten Schritt die Roncalli-Kuppel hochgezogen. Daran werde die Zeltplane eingehängt, sagt Nekat. Die Plane liegt gerade noch wie ein Tellerrock um die Kuppel herum ausgebreitet am Boden. Mit vereinten Kräften zieht die Mannschaft das Zirkuszelt Stück für Stück hoch, ehe sie die Rondellstangen zur Stabilisierung des Runds und die blauen Sturmstangen schräg im Inneren aufstellt, wegen der Sicht. „Der höchste Punkt im Zelt ist nun elf Meter“, so der technische Betriebsleiter, der immer ein Maßband am Mann hat.
Davon macht er fünf Tage später noch mehr Gebrauch, vor allem im Bereich hinter dem Zelt, der für Ausstattung und Artisten reserviert ist. „Da geht ganz schön was ab“, entfährt es Daniel Nekat, als die Wagen mit dem Equipment anrollen. Auf Laien wirkt der Aufbau der Zirkusstadt auf der Bürgerweide, in die 80 Roncalli-Familienmitglieder einziehen wollen, etwas chaotisch. 40 bis 50 Leute arbeiten parallel in unterschiedlichen Gewerken, um den engen Zeitplan einzuhalten. „Aber da weiß jeder, was er zu tun hat“, versichert der technische Betriebsleiter.
Alles muss gerade sein
Ein Team fügt Bodenplatten in die runde, nach außen ansteigende Zuschauertribüne ein. Auch das Musikerpodest muss stabil stehen. „Dass alles gerade ist, darauf legt unser Direktor großen Wert“, verrät Daniel Nekat.
Durch laute Zurufe dirigiert derweil ein Elektriker den Steiger für die Lichtanlage. Ein Kollege montiert Strahlerbatterien an den Masten, andere sortieren Lichterketten für die Kuppel. Die Elektriker müssen acht Kilometer Kabel unter Planen verstecken, damit computergesteuerte Licht- und Tonanlagen die artistischen und künstlerischen Höchstleistungen optimal in Szene setzen. Drei Kilometer Wasserleitungen, 1.500 Meter Abwasserschläuche, Kabel für Internet und alles, was ein Zirkus wie Roncalli so braucht, stehen laut Nekat auf der To-do-Liste.
Die Artisten sind längst eingezogen, aber „Bahn frei“ für ihre letzten Proben gibt der technische Betriebsleiter wahrscheinlich erst Sonnabendmorgen. Das Befüllen des 10,5 Meter großen Runds mit zwölf Kubikmetern gestampftem Lehm und acht Kubikmetern Sägemehl ist der letzte Aufbauakt, bevor es heißt: Manege frei!