Deutschlandweit und auch in Bremen ist die Fallzahl von sexualisierter Gewalt deutlich gestiegen. Wie wirkt sich das in Ihrem Beratungsalltag aus?
Nina Heimberg: Unsere Beratungszahlen sind gleichbleibend hoch. Wir versuchen Betroffenen, Angehörigen und Fachkräften schnell Termine anzubieten, aber zum Teil kam es im letzten Jahr zu Wartezeiten.
Vor dem Hintergrund hat "Schattenriss" bei einem Fachtag sexualisierte Gewalt gegen Kinder mittels digitaler Medien thematisiert. Was ist darunter zu verstehen?
Wir sprechen von mediatisierter sexualisierter Gewalt. Unser Alltag ist mediatisiert: Es gibt keine Trennung mehr zwischen online und offline sein. Das betrifft auch die Kinder. Das Risiko mediatisierter sexualisierter Gewalt ist mit dem technischen Fortschritt und der Verbreitung digitaler Medien kontinuierlich gestiegen. Wir können den Einsatz von digitalen Medien in kaum einem Fall ausschließen. Mediatisierte sexualisierte Gewalt ist ein Sammelbegriff für verschiedene Verletzungshandlungen, die durch Bild, Video und Kommunikationsmedien angebahnt, verübt, begleitet oder aufrechterhalten werden.
Welche Formen der mediatisierten sexuellen Gewalt gibt es?
Sie sind sehr unterschiedlich. Es kann die unaufgeforderte Zusendung von pornografischen Inhalten sein, das nicht einvernehmliche Weiterleiten von Fotos oder Videos, das Anfertigen von Missbrauchsabbildungen und der Handel damit.
Wer übt sie aus?
Mediatisierte sexualisierte Gewalt geht sowohl von Erwachsenen als auch von jungen Menschen aus. Sie von Menschen aus dem sozialen Nahraum Betroffener verübt, unter anderem aus der Familie, aber auch von Menschen, die online kennengelernt wurden.
Mädchen sind häufiger Opfer sexualisierter Gewalt. Weshalb ist dieses Risiko für sie höher als für Jungen?
Wir verstehen sexualisierte Gewalt als Ausdruck von gesellschaftlichem Machtungleichgewicht und Machtmissbrauch, insbesondere an Kindern und Frauen. Sexualisierte Gewalt ist für uns Ausdruck der gesellschaftlichen Generations- und Geschlechtsverhältnisse. Mädchen sind laut polizeilicher Kriminalitätsstatistik in 74 Prozent der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch betroffen, Jungen zu 26 Prozent. In Bezug auf das Erleben von Cybergrooming – sexualisierte Ansprache von Erwachsenen im Netz – gibt es aber laut einer Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen keine signifikanten Unterschiede.
Welche Folgen haben diese Grenzverletzungen für davon betroffene Mädchen?
Online verübte sexualisierte Gewalt kann genauso belastend sein, wie physische sexualisierte Gewalt. Das Riesenproblem der digitalen Medien ist, dass das Internet nichts vergisst. Geht ein Foto oder Video online, ist es kaum zu löschen. Das Risiko einer Reviktimisierung, also einer erneuten Konfrontation mit der erlebten Gewalt, mit Missbrauchsabbildungen oder erneutem Kontakt mit Täterinnen und Tätern ist groß. Das verstärkt die Ohnmachtsgefühle der jungen Menschen und ihre Angst davor, dass diese Bilder irgendwann wieder auftauchen. Das kann zu entsprechenden Folgesymptomen führen, etwa Schlafstörungen, Ängsten, Konzentrationsschwierigkeiten.
Was kann jenen helfen, von denen abscheuliche Bilder im Netz kursieren?
Wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche vertrauensvolle Ansprechpersonen haben, die ihnen glauben, sie unterstützen und ihnen keine Schuld geben. Mädchen werden häufig gefragt, warum sie überhaupt Fotos von sich verschickt haben. Das verstärkt Scham- und Schuldgefühle. Uns ist wichtig, zu betonen, dass die Verantwortung für sexualisierte Gewalt bei den Tätern und Täterinnen liegt, die zum Beispiel Bildmaterial nicht einvernehmlich verbreiten. Bei der Bewältigung von mediatisierter sexualisierter Gewalt sollten die Rechte, Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen im Fokus stehen. Bei Schattenriss arbeiten wir viel mit den Ressourcen der Betroffenen, damit sie über das, was sie gut können oder mögen, mehr Selbstwirksamkeit erfahren und Handlungsmöglichkeiten aktiviert werden. Auch juristische Beratung kann helfen, um eine Entscheidung bezüglich Strafanzeige treffen zu können.
Wie können Kinder und Jugendliche vor mediatisierter sexualisierter Gewalt geschützt werden?
Die Prävention mediatisierter Gewalt verzichtet auf Medienverbote und ist sparsam mit Warnungen. Mit jungen Menschen wird vielmehr dialogisch erarbeitet, weshalb es besonders im Kontext von digitalen Kontakten und Beziehungen schwierig ist, sich gegen sexualisierte An- und Aufforderungen abzugrenzen. Wir würden dazu ermutigen, mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, um zu erfahren, weshalb es so schwerfällt, kein sexy Foto zu verschicken, wie es einem mit Online-Kontakten geht oder ob Gleichaltrige Druck erzeugen. Immer mit dem Ziel, digital selbstbestimmt handeln zu können und sowohl Chancen als auch Risiken zu kennen.
Was raten Sie Eltern?
Es ist wichtig, dass Eltern von Anfang an mit ihren Kindern im Gespräch über die Nutzung digitaler Medien sind. Oft ist ein Medienverbot der erste Impuls, wenn etwas passiert ist. Wenn man aber bedenkt, dass unser Alltag durchzogen ist von digitalen Medien, schränkt ein Verbot die Teilhabe der Kinder ein. Deshalb ist es besser, altersgemäß über Mediennutzung, Chancen und Risiken zu sprechen und Regeln auszuhandeln. Es gibt umfassende Materialien für Eltern zum Thema digitale Bildung und mediatisierte sexualisierte Gewalt, die auch Anregungen geben, um mit Kindern und Jugendlichen darüber ins Gespräch zu kommen.
Warum werden solche Übergriffe so selten öffentlich gemacht?
Nach wie vor ist sexualisierte Gewalt ein großes Tabu-Thema in unserer Gesellschaft. Scham- und Schuldgefühle und strategisch vorgehende Täter und Täterinnen erschweren es Betroffenen, sich anzuvertrauen. Täter und Täterinnen reden Kindern und Jugendlichen ein, dass sie Schuld an der Gewalt seien, ihnen keiner glauben werde oder Schlimmeres passiere, wenn sie darüber reden. Auch bei aufgedeckten Fällen entscheiden sich Betroffene manchmal gegen eine Anzeige, weil sich Verfahren lange hinziehen, Aussage gegen Aussage steht, die psychische Belastung für die Betroffenen enorm hoch ist. Kommen der Täter oder die Täterin aus dem sozialen Umfeld, ist die Hürde sich anzuvertrauen noch größer.
Was könnte dazu beitragen, sexuelle Gewalt mittels digitaler Medien einzudämmen?
Das ist eine sehr komplexe Frage. Grundsätzlich ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sexualisierte Gewalt zu verhindern und zu bekämpfen. Hier kommen Themen wie Prävention, Strafverfolgung, aber auch Rechte und Gesetze und deren Umsetzung im digitalen Raum, politische Vorgaben für Provider und vieles mehr zusammen.
Wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf?
Mediatisierte sexualisierte Gewalt darf nicht bagatellisiert werden. Die Zahl der jugendlichen Täter und Täterinnen ist groß. Wir brauchen auch niedrigschwellige Anlauf- und Beratungsstellen für Jugendliche, die sich grenzverletzend verhalten haben. Auch Fortbildungen für Fachkräfte sind sehr wichtig, ebenso gute Informationsangebote für Eltern. Laut einer Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen wünschen sich 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen, dass das Thema sexualisierte Gewalt mittels digitaler Medien in der Schule behandelt wird. 45 Prozent wünschen sich, das Thema mehr im Elternhaus zu besprechen. Unsere Forderung richtet sich daher an die Politik, die Schulen, Kitas und Fachstellen dementsprechend mit personellen Ressourcen auszustatten.
Das Gespräch führte Ulrike Troue.