Es war durchaus frisch, aber nicht zu kalt. Vor allem aber war es am Sonntagnachmittag trocken – und damit ideales Feuerspuren-Wetter. Schon ab 14 Uhr zog es immer mehr Besucherinnen und Besucher aus Gröpelingen, der gesamten Stadt und auch von auswärts auf die Lindenhofstraße, um sich dort mit Freunden oder der Familie einen schönen Nachmittag zu machen. Gemütlich schlendern konnten sie die Feuershows auf den vier Bühnen entlang der Straße bestaunen, sich mit Börek, Pizza, Thai-Curry und Schmalzkuchen stärken und natürlich den mehr als 200 Erzählerinnen und Erzählern im Alter von 16 bis 85 Jahren lauschen. Die hatten dieses Jahr allerlei Geschichten rund um das Thema „Wo der Mut wohnt“ vorbereitet, die sie einzeln oder in Gruppen vortrugen. Traditionelle Märchen, Sagen und Legenden, persönliche Erlebnisse, historische Stoffe, Utopien, Tatsachenberichte und Biografisches über mutige Persönlichkeiten wie zum Beispiel die Gröpelingerin Martha Heuer, die als 17-Jährige während des Naziregimes gemeinsam mit ihrer Mutter sechs verfolgten Juden Unterschlupf gewährt und ihnen damit das Leben gerettet hatte.

Uli F. Wischnath war einer der mehr als 50 Einzel-Erzähler, die in den 15 Erzähl-Orten entlang der Lindenhofstraße – wie hier im Geschäft ”Zweirad Lindenhof” – auftraten.
Was dieses Mal auffiel: An allen 15 Stationen war direkt zum Erzähl-Startschuss um 15 Uhr bereits der Bär los. „Gleich beim ersten Erzählset war schon alles voll“, sagte Festivalleiterin Christiane Gartner von Kultur vor Ort, deren Bilanz dementsprechend „extrem positiv“ ausfiel: „Es dürften locker 7000 Besucherinnen und Besucher auf der Straße gewesen sein.“

Mit Kathleen Rappolt trat 35 Jahre nach dem Mauerfall nun erstmals eine ostdeutsche Profi-Erzählerin bei dem Bremer Festival auf.
Vor der Hausnummer 10 – dem letzten noch bewirtschafteten Bauernhof an der Gröpelinger Geschäftsstraße – standen die Leute ab 15 Uhr nonstop Schlange. Denn auch in diesem Jahr waren wieder eigens für die Feuerspuren die 14 hofeigenen Kühe ausquartiert worden, um im Stall einer kleinen Bühne und Sitzbänken für rund 80 Zuhörer Platz zu machen. Der idyllische Erzählort genießt unter Feuerspuren-Fans einen fast schon legendären Ruf. Ein ausgesprochen schöner Rahmen, fand auch die aus Berlin angereiste Erzählerin und Theaterpädagogin Kathleen Rappolt, die dort in einem Mix aus Deutsch und Englisch das Grimmsche Märchen von den Sieben Raben erzählte. Vorher stellte sie sich dem Publikum aber erst einmal vor: Sie sei selbst auf einem Hof beziehungsweise einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in der ehemaligen DDR aufgewachsen, weshalb sie sich hier auch gleich heimisch fühle. „Ein Stall riecht überall auf der Welt gleich“, so Rappolt, mit der 35 Jahre nach dem Mauerfall nun erstmals eine ostdeutsche Profi-Erzählerin bei dem Bremer Festival auftrat.
Auch bei Elektro-Fachhändler EP:Friese im Haus Nummer 20A konnte der Gröpelinger Bürgerschaftsabgeordnete Senihad Sator als einer der mehr als 40 Feuerspuren-Gastgeber jeweils am Einlass der Erzähl-Orte schon um kurz vor 15 Uhr vermelden: „Wir sind voll, es passt leider niemand mehr rein.“ Drinnen waren sämtliche eigens für diesen Tag bereitgestellten Stühle besetzt. Zwei Youngster warteten dort auf ihren Auftritt: Darius Klein aus Bremen und der Niederländer Thomas Schuyl. Beide sind gerade mal 16 Jahre alt, waren aber auch schon voriges Jahr als Tandem bei den Feuerspuren dabei. Kennengelernt haben sie sich über ihr gemeinsames Hobby, die Erzählkunst. Für die Vorbereitungen nutzten sie einen Videochat. Dieses Mal hatten sie sich bei der Suche nach geeignetem Erzähl-Stoff von einem Song der schwedischen Heavy-Metal-Band Sabaton über die als „Kampf der toten Männer“ in die Geschichte eingegangene Schlacht um die russische Festung Osowiec im Ersten Weltkrieg inspirieren lassen. Aus der Perspektive der gegeneinander kämpfenden Soldaten Wladimir und Hans schilderten die Teenager, wie es den nach einem Giftgas-Angriff stark angeschlagenen knapp 100 russischen Verteidigern mit dem Mut der Verzweiflung gelang, die etwa 7000 deutschen Angreifer doch noch in die Flucht zu schlagen: „Manchmal braucht es ein bisschen mehr Mut, um das größte Heer zu besiegen.“

Mit Einbruch der Dunkelheit sorgten selbst gebaute Lichtobjekte in den Bäumen und an Laternenmasten für Stimmung.
Nicht weit entfernt drückte sich indes auf der Lindenhofstraße ein Mann mit einem auffällig bunten Feuerspuren-Schal und einem Lastenfahrrad herum. „Wollt Ihr eine Geschichte hören?“, fragte Pierre Hansen die Vorbeigehenden. Außerhalb des Erzählfestivals ist der Medienpädagoge mit dem mobilen Kindermedienatelier (Mokimedia) unterwegs, um Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz zu vermitteln. Für die Feuerspuren hatte er sich mit einer Künstlichen Intelligenz zusammengetan, die er mit von seinem jeweiligen Gegenüber vorgegebenen Stichwörtern und dem gewünschten Erzählstil (lustig, depressiv, erbaulich, neutral) fütterte und dann eine Geschichte ausarbeiten und vorlesen lies. Rund 40 Personen – einzelne Zuhörer und Gruppen – nahmen sein Angebot an, wie Hansen gut drei Stunden später bilanzierte. „Dabei kamen 15 verschiedene Geschichten heraus. Die meisten Leute waren sehr überrascht, was da an Qualität herauskam – vor allem das Thema Mut hat die KI sehr gut hingekriegt. Im Anschluss kamen dann oft noch spannende Gespräche zustande; und vor allem die Erkenntnis, dass KI eigentlich eine gute Sache ist – man aber vorsichtig damit sein sollte.“
Auch Stimmbildnerin und Geschichtenerzählerin Luise Gündel war an diesem Tag draußen auf der Straße unterwegs und per Kopfhörer mit einer Gruppe von rund 20 Menschen verbunden, die ihr in den Heinz-de-Vries-Weg folgten, der die Lindenhofstraße mit der Königsberger Straße verbindet. Gündel hatte eigens für das Erzählfestival eine traditionelle Gruselgeschichte kurzerhand nach Gröpelingen verlegt, wo die Gruppe nun gebannt ihrer Erzählung lauschte. Was die Spannung ungemein steigerte: Die Zuhörer befanden sich, so glaubten sie jedenfalls, direkt dort, wo sich einst eine junge mutige Frau gegen mehrere Angreifer zur Wehr setzte und fast ihr Leben verlor.

Zum feierlichen Abschluss gab es einen großen Laternenumzug mit der Sambagruppe Monte Monja aus dem Bremer Westen.
Entlang der Lindenhofstraße leuchtete es nun in warmen Orange- und Rottönen: In den Bäumen und an Laternenmasten hingen riesige illuminierte Ballons und Fantasiewesen, die Kinder und Jugendliche in verschiedenen Kunst-Werkstätten im Stadtteil gebaut hatten. Strahlende Mädchen und Jungen wurden von ihren Eltern in fahrbaren Laternentaxis in Richtung Werftarbeiterdenkmal befördert, von wo aus sich schließlich der große Laternenumzug mit der Sambagruppe Monte Monja in Bewegung setzte.