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Serie "Mein Kiez" Andreas Lieberg zeigt die schönen Seiten von Gröpelingen

Gröpelingen durch die Augen von Andreas Lieberg. Er beleuchtet die positiven Aspekte seines Stadtteils. Ein Rundgang durch das Lindenhofquartier.
07.12.2024, 06:00 Uhr
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Andreas Lieberg zeigt die schönen Seiten von Gröpelingen
Von Ulrike Troue

Für die meisten Menschen gilt Gröpelingen als Angstraum: Überdurchschnittlich hohe Zuwanderung und die Spitzenposition bei der Armutsquote befeuern soziale Problemlagen, Vermüllung und Kriminalität. Dem größten Stadtteil im Bremer Westen haftet ein negatives Image an. Aus dem Grund hatte Andreas Lieberg das Bedürfnis, den Blick für das schöne Gesicht seines "Kiez" zu schärfen.

Die Probleme in seiner Wahlheimat verschweigt der ehemalige Dozent an der Hochschule für Künste (HfK) keineswegs. "Das war hier lange ein Drogenumschlagplatz, durch die neuen Überwachungskameras ist er das nicht mehr", erzählt Lieberg beim Treffen auf dem Bürgermeister-Koschnick-Platz direkt am Straßenbahnhalt Lindenhofstraße, der im vergangenen Jahr saniert worden ist.

"Ich mag das Urbane hier gerne und den Einfluss von verschiedenen Kulturen", stellt Lieberg dem Spaziergang durchs Lindenhofquartier voran, in dem er seit 14 Jahren mit seiner Frau lebt. Zumal der Umgang miteinander nach seiner Erfahrung von einer grundsätzlichen Freundlichkeit und Gelassenheit geprägt sei. "Hier schauen einem die Menschen ins Gesicht, nicht nach unten", verdeutlicht der Menschenfreund. "Die Bewohner in diesem Quartier, das über 120 Nationalitäten vereint, machen den Charme und seine Lebendigkeit aus."

Weil kulturelle Teilhabe für den Bremer eine Herzensangelegenheit ist, führt Liebergs Route zuerst zum Kinderatelier "Roter Hahn". "Hier können Kinder sich mit Kunst auseinandersetzen und dadurch vielleicht einen anderen Weg einschlagen", erläutert er beim Gang durch den Ausstellungsraum in der alten Feuerwache, wo farbenfrohe Unikate zum Thema Frieden zu bewundern sind.

"Es gibt hier sehr engagierte Menschen, die unterschiedliche Sachen machen", lobt er das Mitmach-Angebot des Vereins "Kultur vor Ort". Das interessiert ihn, sodass er sich dafür auch persönlich engagiert. Die etablierte Reihe der Torhauskonzerte hat Lieberg mit angestoßen. Mit Arne Hollenbach gibt der Gitarrist als Duo "Master Tofu's Masterclass" selber klassische Konzerte.

Nur wenige Meter zurück, gleich nach dem Abzweig hinterm Lindenhof-Center in die gleichnamige zentrale Einkaufs- und Verbindungsstraße in Richtung Häfen, macht Lieberg linkerhand auf die Hofstelle von 1708 aufmerksam: In achter Generation bewirtschaftet Oltmann Gäbel diesen Bauernhof, hat Kühe und Weideland allerdings im Blockland. So ist dieses Anwesen das Überbleibsel des ursprünglich bäuerlich geprägten Stadtteils.

Gleich daneben erregt die Bronzeskulptur "Zur Schicht" des Bremer Künstlers Waldemar Otto Aufmerksamkeit. Das Denkmal mit der schmalen, nach vorn gebeugten Figur mit Mütze und Arbeitstasche ist den ehemaligen Werftarbeitern der AG Weser gewidmet. "Viele von ihnen sind hier durch die Dockstraße zur Arbeit gegangen", erklärt der 74-jährige Lieberg. Die gusseiserne Platte mit dem Brecht-Zitat "Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, hat schon verloren“ haben die Arbeiter 1983 ergänzt – ein halbes Jahr nach der Besetzung der Werft und politischen Kämpfen für den Erhalt.

Pure Lebensfreude blitzt in Liebergs Augen auf und seine Stimme klingt fast euphorisch, als er am Eck zum Pastorenweg erneut innehält. Im "Cam Vino" oder in der traditionsreichen Eckneipe "Zum Fass" gegenüber kehrt der Genussmensch häufig ein. "Das sind richtige Kiez-Treffs", sagt er.

Im Sommer besetzt er am liebsten einen Platz an einem der Tische draußen. Auf ein Gläschen, für gute Gespräche oder einfach nur, um das quirlige Treiben auf der Straße zu beobachten. "Man sieht jeden Tag so viele Menschen", sagt Lieberg, der wenige Hundert Meter entfernt im Pastorenweg wohnt. "Hier pulsiert urbanes Leben, so wie ich es mir vorstelle und es mir gefällt."

An diesem regnerischen Nachmittag ist der Puls der Lindenhofstraße eher niedrig. Dennoch sind einige Menschen zu Fuß unterwegs, die in einem der vielen kleinen Läden, vor denen an sonnigen Tagen zum Teil die Besitzer draußen auf einem Klappstuhl auf Kundschaft warten, einkaufen oder zum Friseur gehen wollen. Viele verschiedene Kulturen prägen das Straßenbild. Das ist auf den ersten Blick zu erkennen – an der unterschiedlichen Statur, Haar- und Hautfarbe, Sprache oder auch verschleierten Frauen.

Die Weinhandlung ist Lieberg zufolge eine Besonderheit in Bremen: "Ansgar Möller verkauft nur persönlich ausgewählte Weine von Pilgerreisen aus Spanien und Portugal." Seine Wallfahrten haben ihn auf die Idee gebracht, seine Leidenschaft zum Beruf zu machen. Zunächst hat Möller ein Unternehmen für Pilgerreisen auf dem Jakobsweg gegründet, später aufgrund vieler Stippvisiten bei den Winzern vor Ort dann noch das Lokal mit Verkostung.

Das "Cam Vino" haben sich die "Pastorentöchter" als Stammlokal auserkoren. Dem lockeren Verbund hat sich Andreas Lieberg angeschlossen. Auch er zählt sich zu den rund 50 Kiez-Bewohnern, die sich für Gröpelingen, seine Geschichte und Zukunft interessieren und sich zu ihrem Stadtteil als liebenswerte Heimat bekennen. Der Pensionär hat unter anderem die Petition für den Abriss der Bauruine Koschnick-Haus mit initiiert.

Beim nächsten Stop vor der "Pastorendiele" im Pastorenweg kann er den Namen der Kneipe erklären: "Hier sind die Gröpelinger Pastoren nach dem Gottesdienst oder einer Beerdigung eingekehrt." An dieser Straße zum Friedhof reihen sich zahlreiche, meist mehrgeschossige Häuser mit tiefen Gartengrundstücken dahinter aneinander, teilweise mit Jugendstilornamenten und Torbogen-Durchgängen. Durch die hohe Zahl an Zuzügen und viele Immobilienverkäufe würde sich die Struktur in dem einstigen Arbeiterquartier jedoch verändern, stellt Lieberg fest.

Weil der Gröpelinger ja die schönen Seiten seines Kiez' beleuchten möchte, spaziert er schnurstracks weiter zum Bürgermeister-Ehlers-Platz. Der Wochenmarkt, an drei Tagen die Woche geöffnet, hat sich zum beliebten Treffpunkt entwickelt. Die Liebergs decken sich dort mit frischen, regional angebauten Lebensmitteln ein. "Wir kaufen auch oft und gern bei türkischen und syrischen Gemüsehändlern", sagt der 74-Jährige. Die Auswahl sei eine andere und wecke ihre Neugier auf neue Rezepte: "Dadurch hat sich unsere Esskultur gewandelt."

Da an diesem Tag keine Marktstände aufgebaut sind, ragt die auf einem Betonsockel platzierte Bronzeskulptur "Arbeitende Hände" des Bildhauers Bernd Altenstein aus der Pflasterfläche empor. Dieses 1987 aufgestellte Denkmal der schaffenden Hände in Arbeitshandschuhen hat starken Symbolcharakter und soll ebenfalls an den Untergang der AG Weser erinnern.

Für den kulturinteressierten Bremer führt beim Rundgang durchs Lindenhofquartier kein Weg am Hochbunker am Pastorenweg 70 gegenüber der Grundschule vorbei. Denn für den ehemaligen HfK-Dozenten ist das beeindruckende Wandbild persönlich bedeutsam.

Zum einen, weil die Idee für die Bemalung und Motive von Jürgen Waller, dem ehemaligen HfK-Rektor, stammt, der sie mit seinen Studenten Ende der 70er-Jahre umgesetzt hat. "Außerdem ist es ein kulturell bedeutendes Werk, weil hier zum ersten Mal in Westdeutschland eine Historienbemalung auf einem Bunker entstanden ist", erläutert Lieberg.

Die Bunkerbemalung illustriert plakativ einzelne Kapitel der Geschichte Gröpelingens – vom Bauerndorf über die Industrialisierungsphase, die Bremer Räterepublik und die Zeit des Nationalsozialismus bis zur Wohlstandsgesellschaft. "Es ist nur ein einziges Mal von Graffiti-Sprayern übersprüht worden, weil sie diese Arbeit würdigen", erklärt der 74-Jährige.

Zum Schluss schlendert Lieberg gemütlich zurück – und durch die Lindenhofstraße in Richtung Stadtteilbibliothek. Auch ein Ort, an dem er sich gern aufhält. Es ist ein kleiner Rundgang, so wie er für Andreas Lieberg und seine Frau zum lieb gewonnenen Ritual geworden ist.

An der Bank unter der Kastanie an der Einmündung Ortstraße endet seine Kiez-Führung – an seinem persönlichen Lieblingsplatz. "Hier sitze ich oft mit einem Kaffee vom Kiosk gegenüber und meiner Frau", erzählt er und findet: "Die Menschen zu beobachten und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, ist ein besonderes Lebenselixier."

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