Wer Siegfried Austels Reihenhaus in Walle betritt, fühlt sich fast wie in einem Museum. Zwei Zimmer im Erdgeschoss stehen voller Waagen: kleine und große, mechanische und elektronische, Präzisions-, Tafel-, Rundkopf- und Federwaagen. Sie sind Austels Beruf und Hobby zugleich. Als aktiver Waagenbaumeister ist der 67-Jährige der letzte seiner Zunft in Bremen.
Allerdings baut Austel schon lange keine Waagen mehr, sondern er repariert sie. Auch bundesweit gilt sein Metier als aussterbender Berufszweig, weil elektronische Waagen seit geraumer Zeit auf dem Vormarsch sind. „Ist ein elektronisches Gerät kaputt, wird es meistens weggeworfen, weil eine Reparatur nicht lohnt“, sagt der Fachmann.
Aus vielen Bereichen des täglichen Lebens sind Waagen nicht wegzudenken. Sie helfen in Apotheken, Laboren, auf dem Wochenmarkt oder bei Altmetallhändlern, Gewichte zu bestimmen, und sie entscheiden beim Versand von Briefen und Paketen über das Porto. Die Ablesegenauigkeit und der Messbereich sind von Fabrikat zu Fabrikat verschieden. Bis auf das hundertstel Gramm genau sind die wenigsten Waagen. Austel verdeutlicht das an einer sogenannten Neigungsschaltwaage, wie sie früher in fast jedem Tante-Emma-Laden stand. Er stellt ein Zwei-Kilo-Eichgewicht darauf. Angezeigt werden 1999 Gramm. „Diese Abweichung liegt im Toleranzbereich", sagt der Experte. Bei der 15-Kilogramm-Waage dürfen es bis zu fünf Gramm sein. Waagen müssen alle zwei Jahr und die Gewichte alle vier Jahre überprüft werden.
Erfahrung fällt ins Gewicht
„Nicht verzagen, Siegi Austel fragen“: Das ist das Motto zahlreicher Bremer Geschäftsleute, die ältere mechanische Waagen haben. Ersatzteile sind oft nicht mehr lieferbar. Austel hat jedoch etliche Teile auf Lager, die er aus altersschwachen Stücken ausbaute. Hilft alles nicht, werden Ersatzteile in stundenlanger Arbeit selbst angefertigt und „in Öl gehärtet“, wie der Spezialist betont. Der passionierte Pfeifenraucher tüftelt geduldig in seinem Keller an den Reparaturen – „oft bis in den späten Abend“, erzählt Ehefrau Erika. „Als Waagenbaumeister muss man alles aus dem Gebiet reparieren können.“ Das ist Siegfried Austels hoher Anspruch. Die Modelle der namhaften Hersteller wie Bizerba, Toledo, Sauter oder Soehnle kennt er aus dem Effeff. Verschleiß tritt laut Austel oft bei der sogenannten Schneide oder der Mechanik in der Pfanne auf. „Die Waagen müssen funktionieren, sonst macht das Eichamt Ärger“, betont der Fachmann.
Zu den Stammkunden gehören unter anderem die Rolandmühle sowie zahlreiche weitere Unternehmen im Hafengebiet. Und im Rotes Kreuz Krankenhaus überprüft er regelmäßig die mechanischen Personenwaagen, die schon mehr als 50 Jahre im Gebrauch sind.
Nach einer Reparatur muss eine Waage selbstverständlich geeicht werden. Bei Ladenwaagen genügt es, wenn Austel einen Koffer mit kleineren Gewichten zum Kunden mitnimmt. Geht es jedoch um eine Fahrzeugwaage, sind etliche 50 Kilogramm schwere Gewichte zu wuchten. Bei anderen Spezialwaagen setzt er schon mal 500-Kilogramm-Brocken ein, die nur mit dem Gabelstapler zu bewegen sind. Und schon am nächsten Tag ist er möglicherweise in einem Labor im Einsatz, bei dessen Waagen es um Genauigkeit im Nachkommabereich geht. Seine Kunden vertrauen ihm: „Meine lange Erfahrung fällt ins Gewicht“, sagt er. Seit 31 Jahren ist Austel selbstständig.
Wie viele Waagen seine private Sammlung umfasst, kann der 67-Jährige nicht sagen. „Ich habe sie nie gezählt.“ Viele Geräte erhielt er geschenkt, andere hat er im Sperrmüll entdeckt. So auch eine seltene historische Edamer-Käsewaage, die sein wertvollstes Exemplar sei. Die ältesten Schaustücke stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das jüngste Ausstellungsstück ist eine elektronische Waage aus den 2000er-Jahren. Ein ausgefallenes Modell ist eine historische Zählwaage, mit deren Hilfe auch die genaue Anzahl kleiner Schrauben und Nägel ermittelt werden kann. Zwischen all den Waagen der Sammlung stehen verschiedene Gewichte – aus Eisen, Messing, Stahl mit Bleikern oder Porzellan.
Hin und wieder baut der Waagenbaumeister doch noch neue Waagen – allerdings Fantasie-Kreationen, die zwar die Anmutung eines Messgeräts haben, aber ohne Funktion sind. „Das brauche ich als Ausgleich zum Stress im Kundendienst“, sagt der 67-Jährige.
Computer gibt es im Hause Austel nicht. Erika Austel tippt die Rechnungen auf der Schreibmaschine, und der Meister überreicht sie nach Möglichkeit persönlich an den Kunden. Bei Siegfried Austel passen Beruf und Sammelleidenschaft in jeder Hinsicht perfekt zusammen: „Das ist einfach mein Ding.“ Nur mit dem richtigen Sternzeichen hat es nicht geklappt. „Ich bin Wassermann“, verrät er.
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