Beim neuen Essighaus sind die Hüllen gefallen: Das Gerüst ist abgebaut. Die Fassade des Neubaus ist jetzt in der Innenstadt sichtbar und verändert die Anmutung der Langenstraße. Das rote Ziegel-Gebäude hat acht Etagen und ist so breit wie drei alte Häuser. Durch die drei Treppen-Giebel soll der Neubau aber weniger massiv wirken und sich harmonisch in die Straße mit ihren Altbauten einfügen. „Die drei Giebel zitieren drei Häuser“, sagt Architekt Stephan Kohlrausch. "Die städtebauliche Wirkung von drei Häusern war gewünscht." Kohlrausch und sein Team von der Bremer Architektengruppe GME sind mit der Umsetzung des Neubaus betraut.
Die größte Besonderheit bietet der Giebel ganz links. Dort zeichnet sich nämlich der Umriss einer Bremer Berühmtheit ab. Mit sandsteinfarbenen Ziegeln wird die Silhouette des alten Essighauses dargestellt, feine Türmchen am Giebel inklusive. Eine "Erinnerungsfassade" nennen Architekt und die Johann Jacobs & Co. Gruppe das. Gemeint ist: Die Fassade des Essighauses wurde nicht exakt nachgebaut, sondern wird neu interpretiert. Manche sprechen von einer "unscharfen Rekonstruktion", so Kohlrausch. Und auch im Inneren soll man historische Bauteile des alten Essighauses sehen können.

Nach dem Krieg entstand an der Stelle des Essighauses dieses Gebäude. Links unten sieht man den alten Renaissance-Erker, rechts oben den Giebel der Sonnenapotheke.
Das alte Essighaus galt als eines der prächtigsten Giebelhäuser der Hansestadt. Die Kaufmannsfamilie Esich ließ sich 1618 das Haus bauen, mit einer extrem verschnörkelten Fassade im Stil der Weserrenaissance. Später beherbergte es unter anderem eine Essigfabrik und einen Weinhandel. Im Zweiten Weltkrieg wurde es zerstört. Doch Teile des reich verzierten Erkers überlebten und wurden später in einen Nachkriegsbau integriert.
Dieser Nachkriegsbau wurde dann vor drei Jahren abgerissen und wich dem Neubau, der jetzt vom Gerüst befreit wurde. Das neue Essighaus soll Büros, Läden und Gastronomie beherbergen. Die ersten Mieter könnten Ende des Jahres einziehen. Das ist Teil des neuen Balgequartiers, das Investor Christian Jacobs entwickelt.
Jede der drei Giebel-Fassaden des Neubaus ist anders gestaltet, mit verschiedenen Farben, Fugen und Mustern beim Mauern. "Die Fassade hat viele Vor- und Rücksprünge", sagt Kohlrausch. "Manche Muster haben wir mit den Bauklötzen meiner Kinder ausprobiert." Durch diese Details, für die an vielen Stellen Steine ein bisschen hervorgucken oder schräg eingesetzt wurden, sollen die harten Raster der Fensterfronten aufgebrochen werden – "damit die Gebäude nicht so wahnsinnig kühl rüberkommen", so der 48-Jährige. Und die Fassade mit der Essighaus-Silhouette wurde sogar von Hand gemauert.
Der schmucke Erker kehrt zurück
"Das Erste war, die alte, sehr fein ziselierte Fassade zu abstrahieren", schildert der Architekt. Später wurde jeder einzelne Stein am Computer gezeichnet und seine genaue Position festgelegt. "Den einen Stein zwei Zentimeter vorziehen, den nächsten vier Zentimeter – die wurden alle von sehr fähigen Maurern verlegt.“ Phasenweise traf sich der Architekt täglich mit den Maurern. „So etwas haben wir auch noch nie gemacht", stellt er fest.
Eine große Lücke klafft noch unten am neuen Essighaus. Dort soll wieder der prachtvolle Erker von einst hin, die alte Utlucht. Den hatten Freiburger Steinmetze 2022 abgebaut und eingelagert. Zudem bildeten sie in mühevoller Arbeit Steine im Renaissance-Stil originalgetreu nach. Die alten und nachgebauten Elemente sollen den unteren Teil der Fassade schmücken. "Man wird später mehr vom alten Essighaus sehen als bei dem früheren Gebäude", sagt Kohlrausch.
Jetzt ist nur noch hinten am neuen Essighaus ein Gerüst. Dort bekommt das Gebäude noch einen vierten Giebel. Dieser zeigt allerdings zur Seite, hin zum Jacobshof, zu dem kleinen Innenhof, der von der Stadtwaage und dem Johann-Jacobs-Haus eingefasst wird. Dort ist ein Plätzchen zum Kaffee trinken entstanden. Wenn die Baustelle weg ist, könnte es ein lauschiger Ort in der Bremer Innenstadt werden.
Derzeit bringen dort Steinmetze alte Schmucksteine am Neubau an. Sie gehören zum Giebel der ehemaligen Sonnenapotheke, einem Haus, das einst in der Sögestraße stand. Als man in Bremen nach dem Zweiten Weltkrieg die Häuser der zerbombten Stadt aus ihren Trümmern neu zusammensetzte, wurde der Giebel der Sonnenapotheke in den Nachbau des Essighauses integriert. Die historischen Puzzlesteine, die man damals zusammenfügte, bleiben auch in Zukunft verbunden: Der Giebel aus der Sögestraße, der nach dem Krieg in die Langenstraße zog, ist künftig vom Jacobshof aus zu sehen.