Bremen. Bewohner kommen und gehen, ein Haus bleibt. Kaum etwas gilt als so unverrückbar wie vier Wände. Doch der Schein trügt: In Bremen haben Erker, Giebel und Gebäudefronten den Stadtteil gewechselt, im Umland zogen sogar ganze Scheunen als Mitgift der Braut ins Nachbardorf um. Kriege und Stadtumbau, Hochzeiten und Grundherrschaft haben Bremens schönste Bausubstanz in Bewegung versetzt.
Bremen. Das schmucke Wohnhaus des Bremer Bildhauers Wilhelm Theophilous Frese ist immer noch eingelagert. Die Denkmalpfleger haben seine barocke Fassade sorgsam in einem Hafendepot verwahrt. Dort, wo es einst stand, auf dem Teerhof, kann es nicht wieder hin: Heute ragt an dieser Stelle die frühere Beluga-Zentrale auf und das Gästehaus der Uni. Doch es wäre möglich, die Fassade andernorts auferstehen zu lassen, vielleicht im Faulenquartier.
Es wäre nicht das erste historische Gebäude, das in Bremen umzieht. Im Gegenteil: Diese Technik hat hier Tradition. Hübsche alte Hausfragmente wurden immer wieder verpflanzt - sogar schon, bevor im Zweiten Weltkrieg 60 Prozent der Innenstadt zerstört wurden. Große Teile der Bürgerhäuser am Marktplatz gehörten ursprünglich nicht hierher, und auch in Gebäude in der Langenstraße, Martinistraße und im Schnoor wurden Erker, Giebel oder Schmucksteine andere Straßen eingebaut.
Versetzen historischer Bestandteile typisch für Bremen
"Dass man so mit historischen Versatzstücken gespielt hat, das ist typisch Bremen", sagt Georg Skalecki, Leiter des Landesamtes für Denkmalpflege. "Das hat man hier mehr gemacht als in anderen Städten." Umgezogene Häuser sind allerdings nicht Skaleckis Lieblingsthema, das wird schnell deutlich: Als Konservator will und muss er sich schließlich dafür einsetzen, dass Häuser dort stehen bleiben, wo sie hingehören.
Doch er kann erklären, warum gerade einige der schönsten Bremer Häuser Mischwesen sind und mit Fassaden fremder Häuser glänzen: "Im 19. und 20. Jahrhundert hat es in Bremen viel Zerstörung gegeben, aber auch viel Umbau, es war eine prosperierende Stadt", erzählt der Denkmalpfleger. "Einerseits wollte man Handel und Fortschritt, andererseits dabei aber auch die Geschichte nicht ganz vergessen." Wo alte Häuser der Modernisierung zum Opfer fielen, wollten die Bremer zumindest besondere Elemente retten, um die Erinnerung wachzuhalten - und lagerten sie ein.
Häuser wurden nach dem Krieg umgebaut
Wo der Krieg Zerstörung hinterließ, betrieben die Menschen ohnehin Baustoff-Recycling und erschufen ihre Stadt aus den Scherben der alten neu. "Die Steine sind oft ohne System wieder eingebaut worden", sagt Skalecki, der auch von einem "Lego-System" spricht. Auf einem Lagerplatz des Bauamtes sammelte man nach dem Zweiten Weltkrieg Herzstücke der zerstörten Stadt. 1953 berichtete diese Zeitung über den Platz an der Waller Nordstraße. Den Trümmern entrissen oder schon zuvor aufbewahrt, lagerten hier einige der schönsten Häuser der Stadt: Das Essighaus, die Stadtwaage und das Amtsfischerhaus, zerlegt in sortierte Steinhaufen.
Das Amtsfischerhaus steht heute im Schnoor und ist ein besonders interessantes Beispiel, weil es in einen komplett anderen Stadtteil versetzt wurde: Ein Haus mit Sprossenfenstern und einem kleinen Erker, der Utlucht, die ebenerdig vorspringt. Bis 1938 stand die Fassade dieses Hauses aus dem 17. Jahrhundert im Stephaniviertel. Dann wurde es abgerissen: Es stand dem Neubau der Stephanibrücke im Weg und wurde der neuen Flussquerung geopfert. Doch zumindest die hübsche Fassade wollte man retten: Die wichtigsten Elemente wurden eingelagert und 1970 beim Wiederaufbau des Schnoors neu integriert.
Dem Laien wird das Amtsfischerhaus heute kaum als Fremdling auffallen. Doch Georg Skalecki hat eine klare Haltung zu den verpflanzten Fassaden: "Das müssen Ausnahmen bleiben. Wir schaffen damit falsche Welten, ein Freilichtmuseum mit Disneyland-Anmutung", kritisiert er. Allein, wer den ohnehin nicht vollständig einlösbaren Anspruch auf Authentizität zurückstellt und in die Biografien der Häuser eintaucht, kann an ihren Ortswechseln viel Interessantes ablesen: Darüber, welche gesellschaftlichen Gruppen über das Gesicht der Stadt entschieden haben und über Bremens frühere Struktur. Die Fassade des Amtsfischerhauses fügt sich zum Beispiel auch deshalb so gut ein, weil das Stephaniviertel früher ähnlich eng und kleinteilig bebaut war wie die Gassen des Schnoor.
Bürgerhäuser mit bewegter Geschichte
Eine bewegte Geschichte haben auch die Bürgerhäuser am Marktplatz: Das südlichste Haus am Markt, das dort stand, wo sich heute die Sparkasse befindet, wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört. "Die Sparkasse ist das spektakulärste Beispiel: Ihre Fassade wurde komplett versetzt", erklärt Skalecki. Eberhard Gildemeister errichtete 1958 das neue Sparkassenhaus - mit einem alten Giebel.
Die Front stammt von einem barocken Bürgerhaus an der Schlachte, dem Hoffschlaegerschen Haus. Dieses fiel keinesfalls dem Krieg zum Opfer: Das Haus wurde 1944 abgerissen, die Fassade eingelagert. "Die Schlachte wurde damals neu gestaltet, und das Haus störte", erzählt Georg Skalecki. Nach dem Krieg erinnerte man sich dann an den Schatz in der Vorratskammer der Denkmalpfleger und wagte sich mit Hilfe der Sparkasse an eine Rekonstruktion des Giebels auf dem Marktplatz.
Ein noch kurioseres Beispiel ist das Deutsche Haus, das heute Becks am Markt beherbergt. Wie bei einem großen Puzzlespiel hat der Architekt Rudolf Jacobs hier schon im Jahr 1909 Fragmente von mindestens sieben verschiedenen Innenstadt-Häusern verbunden: "Das Deutsche Haus war von Anfang an ein Mischgebilde", sagt Skalecki. An der Marktseite verwendete Jacobs Ausluchten der Häuser Tiefer und Hinterm Schütting, ein Erker stammt aus der Pelzerstraße und vom Brill, ein zweiter aus der Balgebrückstraße, ein Giebel aus der Wachtstraße. Das Renaissance-Portal kommt aus der Hakenstraße. Bereits vor den zwei Weltkriegen wurde also in Bremens Bauten kräftig gemischt.
Auch Höfe im Umland wurden versetzt
Doch nicht nur die Wände der Bürgerhäuser sind gewandert. Noch beweglicher als die Stadtgebäude waren die Höfe im Umland. Das liegt an der Fachwerkbauweise, die es ermöglicht, mit Winden komplette Häuser in die Höhe zu heben - und an dem sumpfigen Untergrund der Moore, der das nötig machte. "Im Teufelsmoor mussten die Häuser alle 30 bis 40 Jahre hochgedreht werden, damit sie nicht im Moor versackten", erzählt der Hausforscher Heinz Riepshoff aus Verden. Dann wurde das Fundament aus Findlingen erneuert, bis sie allmählich wieder im Sumpf versanken.
Riepshoff, der für die Interessengemeinschaft Bauernhaus alte Höfe erforscht, stellt den Begriff der Immobilie, der Häuser zu den unbeweglichen Gütern zählt, in Frage und rüttelt an den Grundfesten der Gebäudedefinition: "Im 19. Jahrhundert galt eine Immobilie noch als Mobilie", sagt er. Der Leiter des Bauernhausarchivs in Syke berichtet von Häusern, die mit ihren Besitzern umzogen. "Wenn zur Zeit der Grundherrschaft ein Bauer vom Hof des Herrn flog, hat er seine Gebäude mitgenommen", sagt Riepshoff. Ein Bauer der Gemeinde Martfeld bei Bruchhausen-Vilsen transportierte Wohnhaus und Nebengebäude ab. "Nur das Backhaus musste er stehen lassen, weil es keine Inschrift trug, und so nicht belegt war, dass es ihm gehörte", sagt Riepshoff.
Auch Frauen hätten Scheunen als Mitgift in die Ehe mitgebracht: "Wenn die Braut auf den Hof des Mannes zog, nahm sie die Scheune mit ins Nachbardorf", sagt er. Dafür wurde das Gebäude auf Rundhölzer gestellt: Die Rollen, über die das Haus bereits hinweggezogen worden war, nahm man hinten weg und legte sie vorne wieder aus. Auf diese Weise hat Riepshoff selbst schon ein altes Haus verrollt. Es stand zu dicht an der Straße und hätte sonst abgerissen werden müssen, erzählt er: "Die Werkzeuge zum Anheben und die Eichenrollen waren noch Originale von früher. Wir haben das Haus bewegt wie ein Schiff."