Die Messingplatten glänzen, nachdem Gunter Demnig sie in den Gehweg vor dem Haus in der Neckarstraße eingelassen hat. Zehn Minuten zuvor, die Gehwegsteine sind gerade herausgenommen, setzt er den würfelförmigen Betonklotz vorsichtig in das kleine Loch. Oben auf dem grauen Würfel die Platte mit dem Namen, Schicksal und Daten von Karl Steger. Er klopft den Stein fest, füllt die Lücken mit Bindemittel, gießt Wasser hinüber und streicht die Masse ordentlich glatt. Zum Schluss reibt er den Stein mit einem Tuch sauber. Der Künstler, der den breitkrempigen Hut wie ein Markenzeichen trägt, arbeitet wortlos, konzentriert und routiniert. Er hat schließlich auch schon 70 000 solcher Stolpersteine in ganz Europa verlegt. Nach weniger als fünf Minuten ist das Mahnmal fest im Boden verankert und Demnig bereitet sich auf die nächste Verlegung vor. Während der Verlegung verlassen Menschen das Reihenhaus wortlos und gehen die Straße fort.
Stein Nummer 700 in Bremen
In der Neustadt, Walle und Findorff wurden in den vergangen Tagen 18 neue Stolpersteine im Boden verankert. Sie sind ein Erinnerungsprojekt des Bildhauers Demnig. Er lässt seit über 25 Jahren die Steine in den Gehweg vor den letzten selbstgewählten Wohnorten von Opfern des Nationalsozialismus ein. Passanten sollen über die leicht aus dem Pflaster ragende Tafel buchstäblich stolpern. Bis heute hat Demnig laut Angaben des Bremer Projekts in Europa an rund 1300 Orten Gedenksteine verlegt. In Bremen waren es seit 2004 bisher 685, verteilt über das ganze Stadtgebiet. In diesen Tagen wird Stein Nr. 700 verlegt, sagt Peter Christoffersen, Teil der Bremer Stolperstein Initiative. „Wir wollen die Opfer dem Vergessen entreißen.“ In Findorff kommen elf neue Steine, in Walle zwei und sechs in der Neustadt hinzu.
Im Haus in der Neckarstraße in der Neustadt wird anschließend dem ehemaligen Bewohner Karl Steger gedacht. Die Biographien der Opfer hat die Bremer Stolpersteininitiative recherchiert. Peter Christoffersen trägt die Lebensstationen von Karl Steger für die Anwesenden laut vor. Steger wurde 1903 geboren und war Klempner von Beruf. Er litt an einer psychischen Erkrankung und wurde 1931 in die „Bremische Heil- und Pflegeanstalt“ eingewiesen, die „damalige zentrale Nervenklinik“ und das heutige Klinikum Bremen-Ost. Vier Jahre später wurde er nach einer gerichtlichen Anordnung zwangssterilisiert und in den Folgejahren immer wieder in die Klinik eingewiesen. Nach einem Bombenangriff 1943 und der Beschädigung des Geländes, wurde Steger nach Meseritz-Obrawalde im heutigen Polen verbracht. Dabei handelt es sich um eine von den Nationalsozialisten betriebene „wie wir heute sagen: Tötungsanstalt“, so Christoffersen. Mit Steger zusammen seien über 400 weitere Menschen dorthin deportiert worden. Andere seien ins Kloster Blankenburg verbracht worden. Karl Stegner wurde am 7. Juni 1944 in Meseritz-Obrawalde ermordet. Als offizielle Todesursache ist „Herzschwäche bei Grippe“ angegeben.
In diesem Jahr werden schwerpunktmäßig Steine für Opfer der sogenannten „Euthanasie“ verlegt. Zehn der 18 Steine sollen ihnen gedenken. „Wir haben in Bremen 822 Euthanasieopfer“ sagt Christoffersen. „Euthanasie ist eigentlich ein Euphemismus. Es bedeutet ´Schöner Tod´. Das war die Propaganda der Nazis: Die Ausmerzung von Behinderten herbeizuführen durch Verhungern, Medikamentenentzug oder aktiv durch Todesspritzen und das zu verklären im Rahmen der Euthanasie. Behindert kann man ja nicht gut leben - nach diesem Motto.“ Auch Zwangssterilisationen gehörten zum Vernichtungsprogramm
der Nationalsozialisten. „Zwangssterilisiert wurden vielfach Patienten der Nervenklinik, damit sie keine Nachkommen mehr bekommen konnten. Diesen Eingriff haben nicht
alle Patienten überstanden.“ sagt Christoffersen.
Träger des Bremer Projekts sind der Verein „Erinnern für die Zukunft e.V.“ und die Landeszentrale für politische Bildung Bremen in Kooperation mit dem ehrenamtlichen Initiativkreis Stolpersteine Bremen. Sie haben eine bisher fünfbändige Dokumentationsreihe unter dem Titel „Stolpersteine in Bremen - Biographische Spurensuche“ herausgeben. Jeder Band hat mehrere Bremer Stadtteile zum Thema. Unterstützen können Menschen das Stolpersteinprojekt, indem sie einen Stein für 120 Euro stiften. Das hat Jörg Henschen getan. Er sagt: „Ich finde es richtig, an das Schicksal dieser Menschen zu erinnern, weil die Gefahr ist nie vorbei, das sowas auch mal wiederkommen kann.“ Es ist auch möglich, eine Putzpatenschaft zu übernehmen und einen Stein regelmäßig zu reinigen. Denn: „Die Steine sind aus Messing. Das läuft mit der Zeit an und muss regelmäßig geputzt werden, damit es so gülden strahlt wie am Tag der Verlegung“, so Christoffersen.
Die rund 15 Anwesenden halten nach der Ansprache zu Stegers Leben für eine Schweigeminute inne. Eine rote Rose wird neben den Stein gelegt, ein Mann spielt auf der Querflöte. Dann zieht die kleine Gruppe weiter in die Nachbarstraße. Demnig ist mit seinem roten Kleintransporter schon vorgefahren. Dort wird ein Stein für Johanna Kurosinski verlegt. Auch sie starb in Meseritz-Obrawalde. Angeblich an einer „Herzschwäche bei Darmgrippe“. Angehörige Kurosinskis konnten von der Initiative nicht ausfindig gemacht werden, obwohl sie Mutter von sechs Kindern war. Am Tag zuvor, bei der Verlegung zweier Steine in der Vogelweide für das jüdische Ehepaar Julius und Mathilde Eichholz, ist ein Enkel sogar aus Israel nach Findorff angereist. Das Haus in der Siedlung aus den dreißiger Jahren hatte seinen Eltern gehört. Mathilde Eichholz wurde von dort aus nach Theresienstadt deportiert. Christoffersen sagt, in Bremen habe es im Nationalsozialismus 765 jüdische Opfer gegeben. An vier weitere von ihnen wird seit dieser Woche mit neuen Stolpersteinen erinnert.