Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Konzert im Kito Nikel Pallat: "Wir prägen noch immer die Meinungsbildung

Im Interview erzählt Nikel Pallat von seiner ungewöhnlichen Rolle als Manager und Musiker bei "Ton Steine Scherben" und wie er diese Herausforderung meistert.
02.05.2024, 17:49 Uhr
Lesedauer: 5 Min
Zur Merkliste
Von Christian Pfeiff

Bereits 2019 wurden bei dem Triokonzert von Kai, Funky und Gymmick im Kito Gäste aus dem Bandumfeld der „Scherben“ auf die Bühne gebeten. Waren Sie auch dabei?

Pallat: Ja, einer davon war ich (lacht). Ich erinnere mich noch gut an den Gig, das Kito hat ja eine besondere Atmosphäre. Gerade für akustische Sets finde ich es da absolut toll, weil es so schön holzverschalt ist und man eine ganz andere Atmosphäre hat, als beispielsweise in einem Betonbunker zu spielen.

Holz ist natürlich ein gutes Stichwort: Hätten Sie vor über 50 Jahren damit gerechnet, mit einem provokanten Talkshow-Auftritt eine solche Langzeitwirkung zu erzielen, dass Sie damit einen Moment Fernsehgeschichte geschrieben und teilweise sogar Einzug in die sogenannte „Meme-Culture“ gehalten haben?

Das konnte man weiß Gott nicht erwarten. Das war eben eine dieser Aktionen, wie wir sie mit den Scherben damals häufig gemacht haben, aber dass dieser Auftritt nach so vielen Jahrzehnten immer noch Wellen schlägt... Die Sendung lief damals nachts um elf im dritten Programm, vielleicht haben sich das damals live 5000 Leute angesehen – wenn überhaupt. Und natürlich wird bei heutigen Wiederholungen meist aus dem Zusammenhang gerissen, warum ich das gemacht habe. Stattdessen sagt man sich in den Redaktionen vermutlich: 'Wir können doch mal wieder den jungen Mann mit dem Beil rumtoben lassen, das kommt doch ganz lustig beim Publikum an'.

Sind Sie auf der gesamten Tour oder ausschließlich im Kito als Special Guest dabei?

Ich bin in dem Fall Special Guest. Im Moment absolviert das Trio auch gar keine großen, zusammenhängenden Tourneen. Das Trio gibt es in dieser Besetzung erst seit einem guten Jahr. Vorher gab es das Trio mit Gymmick, das hat sich jedoch im Frühjahr 2023 auseinander dividiert. Dafür ist jetzt seit einigen Monaten Birte Volta dazu gekommen, die sie in Hannover kennengelernt haben. Sie ist eine hervorragende Sängerin und endlich mal eine Frau, die ein komplettes Ton Steine Scherben- und Rio-Reiser-Programm singt. Es gab vorher zwar immer mal Coverversionen einzelner Songs, aber ich kann mich nicht erinnern, dass eine Frau tatsächlich mal das gesamte Scherben-Repertoire, das ja nun auch sehr unterschiedliche Stimmungen beinhaltet, repräsentiert hat. Das ist im ersten Moment zwar sehr ungewöhnlich für die Zuhörer, aber man merkt sehr schnell, wie gut sie das macht und dass sie ihre eigene Linie und ihre eigene Interpretation gefunden hat.

Was können wir von Ihnen selbst auf der Bühne erwarten?

Ich werde wahrscheinlich zwei Solo-Songs singen, und sonst bin ich brav Chorknabe. Mein Saxophon werde ich nicht auspacken, das habe ich zu lange nicht mehr gemacht.

Es ist ja eher ungewöhnlich, dass ein Manager als Musiker mit auf der Bühne steht.

Bei Ton Steine Scherben war das allerdings schon immer so. Ich hatte mich der Band damals 1970 vorgestellt, weil ich selbst ein paar Songs geschrieben hatte – und da war auch schon irgendwie klar, dass ich auch künstlerische Aspekte in die Band einbringen könnte. Allerdings fingen wir erstmal an, die Band überhaupt aufzubauen – und dafür war ich dann eben zuständig, überwiegend im Management. Auf den Tourneen ergab es sich schnell, dass ich dann auch Chor gesungen habe oder eben auch Solo-Lieder hatte. Diese hybride Rolle war eigentlich von Anfang an inbegriffen bei Ton Steine Scherben – genauso wie auch die Bandmitglieder in unserer gemeinsamen Plattenfirma „David Volksmund Produktion“ ständig tätig sein mussten: Pakete packen, Platten verschicken und so weiter.

Als Mitbegründer des Musikvertriebs „Indigo“ ist Ihr Job mehr oder minder derselbe geblieben: Sie arbeiten mit sehr vielen, sehr erfolgreichen internationalen Künstlern, die dem Habitus der „Scherben“ häufig indes eher bedingt entsprechen. Wie viel Politik, Gesellschaftskritik und Protest kann, darf und soll deutschsprachige Pop- und Rockmusik aus Ihrer Sicht im Jahr 2024 leisten?

Ich finde, im Moment sind viele Künstler viel zu schweigsam. Es mag im Vergleich zu 'damals' sicherlich andere Brennpunkte geben, an denen man sich abarbeiten kann, aber ich sehe bei vielen, gerade auch jungen Bands überhaupt kein Bewusstsein, sich auch mal ein bisschen aus dem Fenster zu lehnen und eine Position zu beziehen. Das ist schon ein bisschen anders bei den mittelalten Bands, wozu ich jetzt meinetwegen 'Kettcar' zähle oder 'Die Nerven', wo du merkst, da findet noch irgendeine Auseinandersetzung mit den Themen der Zeit statt.

Wären die Songs der „Scherben“ heute noch genau so möglich und aus Ihrer Sicht - zumal Sie ja immer noch den Finger am Puls des Marktes haben – erfolgversprechend?

Ich bin fest davon überzeugt, dass sie absolut noch in die Zeit passen. Das kriegen wir tagtäglich dadurch bewiesen, dass die Ton Steine Scherben-Platten, speziell „Keine Macht für Niemand“, immer noch über das ganze Jahr hinweg zu den Top 30-Sellern bei Indigo zählen. Es werden noch immer Tausende von CDs, LPs oder auch Boxsets von Ton Steine Scherben gekauft – was bedeutet, dass es nicht nur Sammler gibt, sondern eben auch junge Leute, die das jetzt für sich entdecken. Wir wurden nie groß im Radio gespielt, aber wenn sich das so viele Leute immer noch gerne anhören, wenn immer noch so viele Leute Coverversionen davon machen, dann bedeutet das für mich, dass wir irgendwo in der Meinungsbildung in Deutschland immer noch präsent sind.

Gibt es Lieder und Texte, von denen Sie sich mittlerweile distanzieren, diese heute nicht mehr so schreiben und auch nicht mehr spielen würden?

Wir würden vielleicht heutzutage nicht mehr „Menschenjäger“ in der Form spielen – das war ein Song von der „Keine Macht für Niemand“. Das ist ein Lied, das auf jeden Fall in die damaligen Zeit passte und eine Reaktion auf damalige Ereignisse war. Aber heutzutage wäre das vielleicht tatsächlich etwas aus der Zeit gefallen. Die meisten anderen Liedern finde ich allein schon deshalb nach wie vor aktuell, weil sich viele Verhältnisse einfach so wenig verändert haben. Günter Wallraff könnte sein 50 Jahre altes Buch über prekäre Arbeitssituationen heutzutage fast genauso schreiben – beispielsweise über Leute, die für irgendwelche Paketdienste für ein Taschengeld durch die Gegend fahren müssen. Das ist Ausbeutung genauso wie früher, weil es eben weiterhin der schnöde Kapitalismus ist. Da müssen wir immer gegen angehen.

Wie verorten Sie sich als Protestliedermacher und Vertriebsgründer in Personalunion im Spannungsfeld zwischen Idealismus und Kapitalismus?

Das ist letztlich eine pragmatische Frage. Bei Ton Steine Scherben haben wir unsere eigene Firma gegründet und unseren eigenen Vertrieb aufgezogen, so gut es ging unter den damaligen Verhältnissen. Da holt einen bald die Realität ein und auch die Erkenntnis, dass man nicht immer alles nur verschenken kann. Man lebt nun mal in einer Warengesellschaft. Deren Mechanismen kann man versuchen, so gut es geht, teilweise zu unterlaufen. Durch Preisgestaltung, durch bestimmte andere Sachen – aber letztlich mussten wir immer wieder hin und her überlegen, wie sowas zu kalkulieren ist. Und es ist eben leider manchmal zwingend notwendig, auch mal über Kredite nachzudenken oder solche Sachen. Das ist einfach das normale Leben, das jeder führt und das die Kehrseite der Medaille des Musikgeschäftes ist: Einerseits der Glamour auf der Bühne, andererseits das, was du hinter der Bühne für Anstrengungen machen musst, um überleben zu können.

Das Gespräch führte Christian Pfeiff.

Zur Person

Nikel Pallat fungierte von 1971 bis 1978 als Manager, Saxophonist und (Mit-)Sänger von „Ton Steine Scherben“. 1971 schrieb er einen Moment der Fernsehgeschichte mit seinem Versuch, im Rahmen der live übertragenen Talkshow „Ende offen“ auf WDR 3 einen Studiotisch mit einem mitgebrachten Beil zu zertrümmern. 1993 zählte Pallat zu den Mitbegründern des Musiklabels und -vertriebs „Indigo“. Noch immer pendelt der 1945 geborene Firmengründer mehrmals wöchentlich zwischen dem Firmensitz Hamburg und seiner Wahlheimat Bremen.

Zur Sache

Nachdem die „Scherben“-Urmitglieder Kai Sichtermann (Bass) und Funky K. Götzner (Schlagzeug) seit 2013 gemeinsam mit dem Nürnberger Cartoonisten und Liedermacher „Gymmick“ das Scherben-Repertoire auch als akustische Trioversion auf die Bühnen des Landes brachten, treten sie seit 2023 gemeinsam mit der Sängerin und Gitarristin Birte Volta auf. Zu ihrem Konzert im Kito am Sonnabend 18. Mai um 20 Uhr ist zudem Nikel Pallat als Special Guest geladen.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)