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Proteste im Iran Der Familie beistehen ohne sie zu gefährden

Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“ sticht Betrachtern eines Schaufensters in der Reeder-Bischoff-Straße ins Auge. Was es damit im Atelier Nemati auf sich hat.
15.12.2022, 11:00 Uhr
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Von Daniela Schilling

Lichter in den Bäumen, weihnachtliche Dekorationen in den Schaufenstern und entlang der Fußgängerzone: Wer durch die Vegesacker Innenstadt spaziert, ist von vorweihnachtlicher Atmosphäre umgeben. Ein Ladenfenster fällt jedoch aus der Reihe. Es ist das der Schneiderei Atelier Nemati in der Reeder-Bischoff-Straße. Neben fröhlich gemusterten Taschen und Kissen hängt keine saisonale Deko. Stattdessen teilen sich die handgenähten Accessoires den Platz mit Fahnen, T-Shirts und anderen Dingen, die in den iranischen Nationalfarben gehalten sind. Auf ihnen prangt die Parole „Frau, Leben, Freiheit“ in verschiedenen Sprachen.

Dass sich der bekannteste Ruf der iranischen Protestbewegung in einem Vegesacker Schaufenster wiederfindet, kommt nicht von ungefähr. Die Inhaberin der Schneiderei Sharareh Nemati stammt aus Teheran. 1988 kam sie mit ihrer dreijährigen Tochter nach Deutschland und absolvierte eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau. Später sattelte sie um und machte aus ihrer Leidenschaft für die Schneiderei ihren Hauptberuf. Zehn Jahre arbeitete sie als Änderungsschneiderin beim Modehaus Roland, das 2018 schloss. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, eine passende Stelle in der Umgebung zu finden, entschied sich Nemati eine eigene Schneiderei zu eröffnen. Das Equipment hatte sie von ihrem ehemaligen Arbeitgeber mitbekommen. „Ich wollte nur eine kleine Nähmaschine, aber Herr Roland sagte, ich solle alles mitnehmen“, so Nemati. Im Mai 2019 eröffnete sie ihr Atelier in der Reeder-Bischoff-Straße und ist seither sehr erfolgreich. So nehmen Fachgeschäfte wie Leffers Mode ihre Dienstleistungen in Anspruch und auch viele private Kunden lassen ihre Kleidung bei ihr ändern oder reparieren.

Hat man Verbindungen mit dem Ausland, wird man sofort verdächtigt, für den Westen zu spionieren.
Sharareh Nemati, Schneiderin in Vegesack

Eine Erfolgsgeschichte, die Nemati in ihrem Heimatland so nicht hätte erleben können. Die Möglichkeiten für Frauen, sich frei zu entfalten und unabhängig ihren selbst gewählten Weg zu gehen, sind dort begrenzt. Ein Umstand, der Sharareh Nemati im Alter von 23 Jahren dazu brachte, ihre Heimat zu verlassen. Schon damals wurden Frauen auf der Straße angehalten, wenn sie ihr Kopftuch nicht regelkonform trugen. Trotzdem hatte Nemati nie daran gedacht, das Land zu verlassen. Erst die Scheidung von ihrem Mann machte dies notwendig. „Laut iranischem Gesetz wäre unsere Tochter meinem Mann zugesprochen worden, sofern eine Scheidung überhaupt möglich gewesen wäre“, erklärt Nemati.  „Wäre dies nicht gewesen, wäre ich dortgeblieben und würde heute mit den Menschen auf die Straße gehen“.

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Heute lebt Sharareh Nemati in Blumenthal. Ihre Tochter hat studiert und setzt sich für Frauen ein, unter anderem in einem Mädchenhaus. Die Geschehnisse in ihrer „Geburtsheimat“, wie sie den Iran nennt, beschäftigen Nemati sehr. Täglich sitzt sie hinter einer ihrer Nähmaschinen und hört Radio. Gesendet wird aus England in persischer Sprache. Direkt aus dem Iran dringen Informationen nur spärlich nach außen. Private Handys würden kontrolliert, die Medien zensiert. Zudem gäbe es oft kein Internet und wenn doch, wagten die meisten nicht, etwas zu posten, weiß Nemati. „Meine Cousine sendet mir Bilder und Videos und ich poste sie auf meinem Instagram-Kanal. Sie hat Angst, das selbst zu tun“, erzählt die gebürtige Teheranerin. Über ihre Verwandtschaft bekommt sie einen Einblick in das Leben vor Ort. „Mein Cousin erzählte, dass man nicht einkaufen gehen kann ohne Angst, dass geschossen wird“, so Sharareh Nemati.  Trotz des Wunsches, ihrer Familie beizustehen und zu erfahren, was vor sich geht, hat sie die Telefonate mit ihren Angehörigen zurückgefahren. Sie möchte sie nicht gefährden. „Hat man Verbindungen mit dem Ausland, wird man sofort verdächtigt, für den Westen zu spionieren“, erklärt Nemati.

Um nicht länger das Gefühl zu haben, die Geschehnisse im Heimatland nur beobachten zu können, begann Nemati Flaggen, Banner und T-Shirts zu nähen. „Eigentlich wollte ich damit nur ein Statement setzen, aber es kommen tatsächlich Menschen rein, um T-Shirts oder Postkarten kaufen. Die verschicken sie dann statt Weihnachtskarten“, berichtet Sharareh Nemati. Sie freut sich über den Zuspruch und hofft, dass die Situation bald eine positive Wendung nehmen wird. „Es geht nicht mehr nur um den Hijab. Das Land braucht ein neues Grundgesetz und eine Demokratie“. Nemati ist überzeugt, dass der Iran den Wandel aus sich heraus schaffen kann. „Wir haben so viele gut ausgebildete junge Menschen im Land. Ich bin mir sicher, dass sie das hinbekommen“.

Zur Sache

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Im Zuge der Islamischen Revolution wurde 1979 die Monarchie im Iran abgeschafft und die Islamische Republik als Staatsform eingeführt. Da die neue Regierung Oppositionelle politisch verfolgte, kam es in den 80er-Jahren zu einer Fluchtbewegung, bei der vor allem Mitglieder der akademisch geprägten Mittel- und Oberschicht das Land verließen.

In den 1960er-Jahren hatten die Frauenrechte Schritte zur Gleichberechtigung gemacht. Im Zuge der Islamischen Revolution wurden sie wieder beschnitten. So stellen Frauen die Hälfte aller Universitätsabsolventen und insgesamt ist das Bildungsniveau sehr hoch, sie dürfen jedoch nur bestimmte Berufe ausüben. Hinzu kommt, dass sie die Erlaubnis ihres Mannes brauchen, um beruflich tätig zu sein. Auch wurde ein 1967 beschlossenes Gesetz, das Mann und Frau im Scheidungsrecht gleichstellte, wieder abgeschafft.

Insgesamt werden Frauen in fast allen Rechtsbereichen benachteiligt. Das gilt auch bei den Bekleidungsvorschriften. Während es bis 1944 in öffentlichen Einrichtungen ein Kopftuchverbot gab und es nach dessen Aufhebung jedem frei stand, es zu tragen, ist der Hijab seit Einführung der neuen Staatsordnung in der Öffentlichkeit vorgeschrieben. Im Laufe der Zeit lockerte sich die Auslegung zwar, seit 2015 wird jedoch wieder strenger kontrolliert und Frauen dabei auch immer wieder attackiert. Die aktuelle Protestbewegung entzündete sich an so einem Fall: dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei festgenommen wurde und in Polizeigewahrsam starb. Anlass für die Verhaftung war ihr nicht korrekt getragenes Kopftuch.

Bereits 2009, 2017 und 2019 gingen die Menschen auf die Straße, um ihren Unmut über das herrschende Regime zu äußern. Die Unruhen wurden gewaltsam niedergeschlagen. Was die aktuellen Proteste unterscheidet, ist, dass sie umfassender sind, eine breitere Masse mobilisieren und mit Themen wie Frauenrechten, Rechten von Minderheiten und der wirtschaftlichen Situation im Land das gesamte System infrage stellen.

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