Lichter in den Bäumen, weihnachtliche Dekorationen in den Schaufenstern und entlang der Fußgängerzone: Wer durch die Vegesacker Innenstadt spaziert, ist von vorweihnachtlicher Atmosphäre umgeben. Ein Ladenfenster fällt jedoch aus der Reihe. Es ist das der Schneiderei Atelier Nemati in der Reeder-Bischoff-Straße. Neben fröhlich gemusterten Taschen und Kissen hängt keine saisonale Deko. Stattdessen teilen sich die handgenähten Accessoires den Platz mit Fahnen, T-Shirts und anderen Dingen, die in den iranischen Nationalfarben gehalten sind. Auf ihnen prangt die Parole „Frau, Leben, Freiheit“ in verschiedenen Sprachen.
Dass sich der bekannteste Ruf der iranischen Protestbewegung in einem Vegesacker Schaufenster wiederfindet, kommt nicht von ungefähr. Die Inhaberin der Schneiderei Sharareh Nemati stammt aus Teheran. 1988 kam sie mit ihrer dreijährigen Tochter nach Deutschland und absolvierte eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau. Später sattelte sie um und machte aus ihrer Leidenschaft für die Schneiderei ihren Hauptberuf. Zehn Jahre arbeitete sie als Änderungsschneiderin beim Modehaus Roland, das 2018 schloss. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, eine passende Stelle in der Umgebung zu finden, entschied sich Nemati eine eigene Schneiderei zu eröffnen. Das Equipment hatte sie von ihrem ehemaligen Arbeitgeber mitbekommen. „Ich wollte nur eine kleine Nähmaschine, aber Herr Roland sagte, ich solle alles mitnehmen“, so Nemati. Im Mai 2019 eröffnete sie ihr Atelier in der Reeder-Bischoff-Straße und ist seither sehr erfolgreich. So nehmen Fachgeschäfte wie Leffers Mode ihre Dienstleistungen in Anspruch und auch viele private Kunden lassen ihre Kleidung bei ihr ändern oder reparieren.
Eine Erfolgsgeschichte, die Nemati in ihrem Heimatland so nicht hätte erleben können. Die Möglichkeiten für Frauen, sich frei zu entfalten und unabhängig ihren selbst gewählten Weg zu gehen, sind dort begrenzt. Ein Umstand, der Sharareh Nemati im Alter von 23 Jahren dazu brachte, ihre Heimat zu verlassen. Schon damals wurden Frauen auf der Straße angehalten, wenn sie ihr Kopftuch nicht regelkonform trugen. Trotzdem hatte Nemati nie daran gedacht, das Land zu verlassen. Erst die Scheidung von ihrem Mann machte dies notwendig. „Laut iranischem Gesetz wäre unsere Tochter meinem Mann zugesprochen worden, sofern eine Scheidung überhaupt möglich gewesen wäre“, erklärt Nemati. „Wäre dies nicht gewesen, wäre ich dortgeblieben und würde heute mit den Menschen auf die Straße gehen“.
Heute lebt Sharareh Nemati in Blumenthal. Ihre Tochter hat studiert und setzt sich für Frauen ein, unter anderem in einem Mädchenhaus. Die Geschehnisse in ihrer „Geburtsheimat“, wie sie den Iran nennt, beschäftigen Nemati sehr. Täglich sitzt sie hinter einer ihrer Nähmaschinen und hört Radio. Gesendet wird aus England in persischer Sprache. Direkt aus dem Iran dringen Informationen nur spärlich nach außen. Private Handys würden kontrolliert, die Medien zensiert. Zudem gäbe es oft kein Internet und wenn doch, wagten die meisten nicht, etwas zu posten, weiß Nemati. „Meine Cousine sendet mir Bilder und Videos und ich poste sie auf meinem Instagram-Kanal. Sie hat Angst, das selbst zu tun“, erzählt die gebürtige Teheranerin. Über ihre Verwandtschaft bekommt sie einen Einblick in das Leben vor Ort. „Mein Cousin erzählte, dass man nicht einkaufen gehen kann ohne Angst, dass geschossen wird“, so Sharareh Nemati. Trotz des Wunsches, ihrer Familie beizustehen und zu erfahren, was vor sich geht, hat sie die Telefonate mit ihren Angehörigen zurückgefahren. Sie möchte sie nicht gefährden. „Hat man Verbindungen mit dem Ausland, wird man sofort verdächtigt, für den Westen zu spionieren“, erklärt Nemati.

Sharareh Nemati_Atelier Nemati
Um nicht länger das Gefühl zu haben, die Geschehnisse im Heimatland nur beobachten zu können, begann Nemati Flaggen, Banner und T-Shirts zu nähen. „Eigentlich wollte ich damit nur ein Statement setzen, aber es kommen tatsächlich Menschen rein, um T-Shirts oder Postkarten kaufen. Die verschicken sie dann statt Weihnachtskarten“, berichtet Sharareh Nemati. Sie freut sich über den Zuspruch und hofft, dass die Situation bald eine positive Wendung nehmen wird. „Es geht nicht mehr nur um den Hijab. Das Land braucht ein neues Grundgesetz und eine Demokratie“. Nemati ist überzeugt, dass der Iran den Wandel aus sich heraus schaffen kann. „Wir haben so viele gut ausgebildete junge Menschen im Land. Ich bin mir sicher, dass sie das hinbekommen“.