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Wilde Bühne Bremen Konsequente Drogenfreiheit ist Pflicht

Zwei Dinge einen die Akteure der Wilden Bühne Bremen: 1. Sie alle waren mal süchtig, 2. sie wollen anderen Menschen dieses Schicksal ersparen - jetzt schon seit 20 Jahren.
26.01.2023, 08:00 Uhr
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Von Anke Velten

Im Alter von knapp zwanzig Jahren hätte Jennys Leben zu Ende sein können. Mit 13 Jahren der erste Alkoholrausch, kurz darauf der erste Joint, die Erinnerung an die Jahre davor und danach verschwommen im Schleier immer wirksamerer Drogen. „Ich habe alles genommen, was ich kriegen konnte, und keinen Bock, clean zu sein“, erinnert sie sich. Heute steckt in dem zarten, zerbrechlichen Persönchen eine erwachsene Frau, von deren Stärke und Erfahrung sich andere etwas abschauen können.

Seit zwanzig Jahren erzählt die Wilde Bühne Bremen Geschichten, die das Leben schreibt, mit Menschen, die wissen, was auf dem Spiel steht. Alle Stücke handeln davon, menschliche Krisensituationen zu erkennen und zu verstehen. Sie sind ausgedacht, aber immer wahr. Für Jenny wie für viele andere wurde dieses besondere Theater zum Rettungsanker. Die verlässliche ressortübergreifende Förderung war ein lang gehegter Wunsch, der sich im vergangenen Jahr endlich erfüllte. Ein schönes Geburtstagsgeschenk machte sich dieses besondere Ensemble aber gerade selbst: Das berauschende Gefühl der ersten Abendvorstellung nach drei Jahren.

Jenny erzählt davon, wie überwältigend es war, durch den Vorhang zu lugen und zu sehen, dass der Zuschauerraum voll war. Sie spricht von der „krassen Energie“, die zwischen den Akteuren und dem Publikum spürbar wurde. „Für uns auf der Bühne war es wie ein Rausch“, sagt sie. Die Entgiftung vor zehn Jahren war der Moment, an dem sie „zum ersten Mal klar gesehen“ habe, erklärt die 30-Jährige, die in den vergangenen Jahren ihr Abitur gemacht hat und inzwischen Psychologie studiert. Die Therapie gab ihr den Mut, sich ihren Dämonen zu stellen. Kraft und Halt gibt ihr seitdem die Arbeit mit dem Ensemble und für das Publikum.

Der Wilden Bühne verdanke er, „dass ich zu mir gefunden habe und mein Innerstes mit der Außenwelt verbinden konnte“, sagt auch Kai. Vor zehn Jahren kam er zum ersten Mal ins Volkshaus, körperlich und seelisch völlig erschöpft. „Ich bin mit Drogen aufgewachsen“, erzählt er. „Sucht ist eine lebensbedrohliche Krankheit.“ Inzwischen muss er sich für Proben und Auftritte Urlaub nehmen: Seit seiner Ausbildung zum Erzieher arbeitet der 34-Jährige in einer Bremer Kindertagesstätte.
„Gerade Wege reizen uns nicht“, sagten einmal die Schauspielerinnen und Theaterpädagoginnen Jana Köckeritz und Michaela Uhlemann-Lantow, die die Wilde Bühne Bremen 2003 gegründet haben und nach wie vor leiten. Die 18 übrigen Ensemblemitglieder sind ehemalige Suchtkranke. Spielregel ist die konsequente Drogenfreiheit.

In ihren Stücken greift die Theatertruppe aktuelle gesellschaftliche Themen auf. Im Repertoire geht es zum Beispiel um Alkoholabhängigkeit und Spielsucht, um Gewalt in der Schule, Essstörungen oder Cybermobbing. Die Stücke stellen die Frage, warum Menschen sich selbst oder anderen Gewalt antun. Die Protagonisten sind Menschen, die die Grenze überschreiten, an der sie ihrem Leben eine andere Wendung hätten geben können.

„Authentisch: das ist das Wort, das wir am häufigsten hören“, sagt Michaela Uhlemann-Lantow. „Unsere Schauspieler wissen, was es bedeutet, am Abgrund zu stehen und sich für das Leben zu entscheiden.“ Die Wilde Bühne wird oft für Auftritte in Schulen, Jugendzentren oder auf Fachtagungen in der gesamten Region engagiert. Im Anschluss an jede Aufführung gibt es eine Gesprächsrunde, in der sich die Akteure viel Zeit für ihr Publikum nehmen.
Besonders Jugendliche spreche diese Form der Drogen- und Gewaltprävention auf Augenhöhe und ohne erhobenen Zeigefinger sehr an, weiß Jenny, die inzwischen Seminare leitet. „Unsere Gespräche sind oft Türöffner.“ Doch das Ensemble selbst treibt vor allem der künstlerische Anspruch. „Unsere Schauspieler wollen den Applaus nicht, weil sie früher drogenabhängig waren“, betont Jana Köckeritz, „sondern weil sie gut sind.“

Das schaffte überregional Aufmerksamkeit und Respekt: Bereits 2009 wurde die Wilde Bühne Bremen im Bundesdrogenbericht der Bundesregierung als „modellhaftes Präventionsprojekt“ gewürdigt. Das Projekt „Und plötzlich stand die Welt still“ erhielt vor zwei Jahren den Bremer Medienkompetenzpreis „Das Ruder“, 2020 wurde die Wilde Bühne mit dem ersten Platz beim Bundeswettbewerb „Wirkungsvolle Suchtprävention vor Ort“ ausgezeichnet, 2022 mit dem zweiten Platz beim Gesundheits-Award der Metropolregion Nordwest. 2021 organisierte das Team das Festival „Wilde Wochen“ mit Aufführungen, Vorträgen und Diskussionen. Die Wiederholung für den kommenden Herbst geplant.

Die beiden Leiterinnen des Theaters, die gleichzeitig dessen Autorinnen, Regisseurinnen und Öffentlichkeitsarbeiterinnen sind, arbeiteten als Theaterpädagoginnen in der Suchtprävention und beschlossen im Jahr 2003, ein festes Ensemble zu gründen. Die Wilde Bühne war lange als mobile Theaterwerkstatt unterwegs. Erst seit 2013 ist das Volkshaus an der Hans-Böckler-Straße feste künstlerische Heimat.

Name und Idee gehen auf die Stuttgarter Wilde Bühne zurück, die seit 1990 besteht. Doch anders als die Schwaben, die großzügig öffentlich gefördert werden, musste sich das Bremer Pendant bis vor kurzem ausschließlich aus Eintrittsgeldern, Spenden und Projektmitteln finanzieren. Im vergangenen Jahr wurde erstmals eine Förderung durch die Bremer Senatsressorts für Gesundheit und Kultur bewilligt, die Geschäftsführung und Verwaltung für zwei Jahre absichert. Projektförderungen kommen zusätzlich aus dem Bildungsressort und aus der Kooperationsstelle für Kriminalprävention der Innenbehörde, erzählt Köckeritz. Honoriert werde damit auch das Engagement der Wilden Bühne während der Corona-Pandemie, vermutet Uhlemann-Lantow. „Wir haben sehr früh gesehen, dass besonders Kinder und Jugendlichen darunter leiden, und waren permanent in Schulen präsent.“

„Wir gegen die Anderen“ stand auf dem Programm des ersten Abendauftritts nach langer Zeit – das Stück, das vor zehn Jahren Premiere feierte. Es handelt von der Faszination der Fankultur und von den Gefahren, wenn sie extrem wird. Es erzählt von Rassismus und Populismus – Themen, die nichts an Aktualität verloren haben. Doch in allen Stücken der Wilden Bühne geht es vor allem darum, Mut zu machen. Denn alle Beteiligten haben erlebt: Wenn man Hilfe sucht und findet, gibt es einen Ausweg.

Mit Förderung der Kooperationsstelle Kriminalprävention (KSKP) ist der Besuch des interaktiven Theaterstücks „Blau“ kostenlos für die Abendvorstellungen am Freitag, 24.  Februar, Donnerstag, 11. Mai, Donnerstag und Freitag 5. und 6. Oktober, jeweils 19.30 Uhr. Eine Anmeldung ist erforderlich unter
buero@wilde-buehne-bremen.de. Weitere Informationen über das Ensemble, die Inszenierungen und den Spielplan gibt es auf
www.wilde-buehne-bremen.de.

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