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Aussterbende Spezies "Ein Gefühl wie Urlaub"

Das lebenslange Wohnrecht im Kleingartengebiet ist ein Auslaufmodell. Die sogeannten "Auswohner" empfinden das Leben inmitten der Natur als großen Vorzug - und würden ihr Zuhause nicht eintauschen wollen.
28.04.2022, 15:30 Uhr
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Von Ulrike Troue
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Lange unbefestigte Wege und schmale Zuggräben gliedern das grüne Labyrinth, in dem Zäune oder Hecken die Grünflächen begrenzen. Beim Gang durch die kleine Oase zwischen Gewerbegebiet und Autobahn am Hohweg mag Gartenfreunden beim Anblick von zugemüllten oder mit Brombeerbüschen überwucherten Parzellen das Herz bluten. Noch aber sind die gepflegten Schollen mit gemähtem Rasen, Blumen- und Gemüsebeeten, teils liebevollen Dekorationen und intakten Häuschen in der Überzahl – und das Zuhause für "Auswohner". 

Zu dieser Spezies, die bis zu ihrem Lebensende in einem Kaisenhaus wohnen darf,  gehören Gunda und Wolfgang Golinski. "Ich bin hier 1954 geboren, meine Eltern hatten einen Eisenwarenladen, alle kannten sich", erzählt die Gastgeberin beim Kaffee in der guten Stube von einer wunderbaren Kindheit im Waller Reich der Kleingärtner. "Und im August war immer Lampionfest, aber im Dunkeln hatte kein Kind Angst, denn jeder hat auf jeden aufgepasst."  

Alteingesessen und bekannt

Heute werfen Golinskis aus den Fenstern ihres vergleichsweise großen, gemauerten Siedlungshauses mit Garage und "wilden" Anbauten wie einer überdachter Veranda noch ein wachsames Auge auf das Grundstück schräg gegenüber. Dort steht ein deutlich kleineres "Behelfsheim", das ein Stück Bremer Nachkriegsgeschichte dokumentiert: das Kaisenhaus-Museum. "Wir sind die Hausmeister, sagen alle, weil wir es im Blick haben", plaudert Gunda Golinski schmunzeld aus, die sich mit ihrem Mann im Trägerverein sehr und überzeugt für das Museum engagiert. 

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"Hier im Behrensweg kennen sich die Nachbarn", erzählt das Paar. Ansonsten eher "nur die Alteingesessenen". Im Alter werde das Leben auf der Parzelle beschwerlicher, beobachtet Wolfgang Golinski. "Mobilität ist wichtig", spricht das ehemalige Beiratsmitglied längere Wege zum Arzt und Einkaufen an. Das gut informierte und aktive Ehepaar verfügt über ein Auto. Walle oder Findorff können sie gut mit dem Rad zu erreichen. Zu Fuß mit dem Shopper dauert der Einkaufsweg nach Auskunft der Hausherrin eine halbe Stunde pro Strecke. Aber das empfindet sie nicht als Belastung, genießt vielmehr die Bewegung an der frischen Luft.

Idyllische Ruhe

"Ich finde es heute noch schön, wenn ich ins Grüne gehen kann", sagt Wolfgang Golinski. "Ich habe hier jeden Tag ein Gefühl wie im Urlaub. Wir leben im Grünen, das merkt man: Es lebt sich ruhig hier, im Sommer ist es immer zwei Grad kühler als in der Stadt, und der Geruch ist ein anderer, die Abgase hat man nicht", zählt er als Vorzüge auf, die er und seine Frau schätzen und nie mehr missen möchten.

"Wir haben auch Tiere: Enten, Frösche, Rehe", ergänzt Gunda Golinski. Beide würden sich nach ihrem Tod statt Abrissbagger eine Nachnutzung ihres soliden Siedlungshäuschens wünschen – am liebsten als Kindergarten-Dependance mitten in der Natur. "Das Allerschönste hier ist", so ihr Mann, "das erste, frische Grün."

Manchmal kann das jedoch auch zu viel werden. Auf einem Flurstück direkt neben ihrem Zuhause wuchert hohes Gras. Vereinzelt liegen Altlasten herum. Das Gelände verkommt zusehends. "Was leer steht, da wird eingebrochen, randaliert, besprüht", berichten die "Auswohner". Schäbig sehen manche illegal bewohnten Lauben aus. Aber darüber sprechen Golinksis nicht. Ehrensache. Zudem kennen sie die Schwierigkeit einer Neuverpachtung: "Keiner will ein Grundstück haben, wenn er erst drei Jahre arbeiten muss, ehe er sich dort erholen kann." 

Angesichts der angespannten Wohnsituation in der Stadt kann Bernd Grützke nicht verstehen, weshalb die "Auswohner" und ebenso gute Wohnsubstanz ein Auslaufmodell sein sollen. Er lebt mit seiner Partnerin auf einer Parzelle im Zaunkönigweg, ist dort aufgewachsen. "Das ist finanzierbar, stadtnah und ich wohne im Grünen", sagt er. "Das ist meine Heimat".

Wenn die Meisen sich die Körner in aller Ruhe von der Untertasse auf dem Gartentisch picken und Marianne Blanken sie dabei aus ihrem Küchenfenster beobachten kann, ist das für sie ein Stück Lebensfreude. Seit 65 Jahren ist das Kleingartengebiet ihr Lebensmittelpunkt. "Und einen alten Baum soll man nicht verpflanzen", betont die 85-Jährige.

Die Parzelle hat ihr inzwischen verstorbener Ehemann auf Vermittlung eines Arbeitskollegen vom alten Schlachthof gekauft. Ihr Helmuth habe erst die beiden Schuppen verkleidet, ihr Zuhause dann nach und nach erweitert, weil es für drei Kinder mehr Platz brauchte, erzählt die kontaktfreudige Seniorin, die auch keinerlei Berührungsängste zu "jungen Leuten, die da wohl wild wohnen" hat.

Als Dorfkind "lebt man ganz anders", sagt die gebürtige Hepstedterin. Marianne Blanken ist von klein auf mit einem Garten zur Selbstversorgung, Einwecken und Einfrieren aufgewachsen. Bis heute baut die 85-Jährige selber Gemüse an: Tomaten, Gurken und Paprika in zwei Gewächshäusern, rote Kartoffeln, Salat, Schlangenbohnen oder auch Mangold in langen Beeten, die der graue Plattenweg zur Eingangstür unterteilt.

Zu viel für den Eigenverzehr, gesteht Marianne Blanken, die noch mit dem E-Bike einkaufen fahren kann und mit darüber hinaus benötigten Dingen von ihrer Tochter versorgt wird. Der Gemüseüberschuss ist aber ein idealer Anknüpfungspunkt für nachbarschaftliches Miteinander. Die gastfreundliche Gärtnerin in Jankerjacke und mit Puschen erzählt freudig von ihren Tauschgeschäften: Eine Laubenpieperin habe ihr Steckzwiebeln vor die Tür gelegt, eine andere ein Paket Stangenbohnen zugesteckt. Im Gegenzug bekämen sie "eine Handvoll frisches Gemüse" gratis – und einen Klönschnack dazu. 

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