Im Hafenarchiv im Kulturhaus Walle, Brodelpott, hatte man sich gefreut, einen guten Fang gemacht zu haben. Die Sammlung der „Kommodore Johnsen“-Crew sollte in der Bibliothek des Archivs im ehemaligen Kellogg-Verwaltungsgebäude an der Muggenburg ein neues Zuhause bekommen. In den Jahren zwischen 1936 und 1945 wurden rund 300 Schiffsjungen auf dem Viermaster zu Matrosen ausgebildet, und Hans Böhnstedt ist einer der letzten noch lebende Seeleute aus dieser Zeit. Der 96-Jährige lebt in Travemünde und übergab dem Spezialteam des Brodelpott-Geschichtskontors ein Konvolut an Erinnerungen – darunter ein dickes Buch mit Berichten und
Anekdoten aus erster Hand, ein Ordner mit spektakulären Fotografien sowie diverse Speichermedien mit historischen Bild- und Tonaufnahmen. Doch die Freude in der Überseestadt währte nur ein paar Tage – dann hatte es sich Hans Böhnstedt anders überlegt und beschlossen, dass die Sammlung woanders besser aufgehoben ist.
Die „Kommodore Johnsen“ befuhr nur neun Jahre lang die Weltmeere. Doch unter anderem Namen und anderer Flagge segelt sie noch heute. Das Erinnerungsbuch ist eine Sammlung von authentischen Zeitzeugenberichten vom Alltag an Bord, von den Tätigkeiten, Abenteuern und Gefahren. Die ehemaligen Kadetten erzählen darin, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – mit viel Seefahrerjargon, mitunter auf Plattdeutsch. Einige Fotografien im Ordner zeigen das Leben an Bord in bunter Hochglanzversion: So wolkenlos der Himmel und so blau das Meer, so waghalsig die Matrosen in ihren schicken Uniformen, die hoch oben auf den imposanten Segelmasten balancieren. „Das war ein Fotograf, der den Auftrag hatte, Aufnahmen für eine Rekrutierungskampagne zu machen“, erklärt Böhnstedt im Gespräch mit dem Stadtteil-Kurier. Auf dem Segelschiff erlebten die Schiffsjungen die Elemente hautnah, mit denen sie später umzugehen hatten. „Wir lernten alles mit Auge, Ohr und wenig Technik“, erzählt er, „Peilen, Glasen, Windgeschwindigkeiten messen.“
Die Ausbilder waren mit allen Wassern gewaschen: „Alles Kap Hoorniers“, sagt er. Und die Crew: „Wir verbrachten zwei Jahre Hängematte an Hängematte, bei härtester Arbeit.“ Das schweißt zusammen, „da entstehen Freundschaften.“ Diese Verbindung unter den Kadetten blieb auch lange nach der Ausbildungszeit bestehen. „Wir wussten immer, wo die anderen waren. Viele wurden später Kapitäne, andere waren im Lotsendienst, fast alle blieben in der Laufbahn“ – so wie er selbst, der bis zu seinem Ruhestand in verantwortlicher Position für einen internationalen Mineralölkonzern tätig war. Im Laufe der Jahrzehnte traf man sich immer wieder. Böhnstedt schätzt, bestimmt wohl 70 bis 80 Mal.
Die Matrosen waren vom Militärdienst befreit, der Segelfrachter übernahm allerdings im Auftrag der Kriegsmarine den Transport von Mannschaften, Munition, Versorgung und zuletzt auch Flüchtlingen, erzählt Böhnstedt, der bis 1944 an Bord war. Als die Kriegsgefahren zu groß wurden, wurde das Schulschiff in ruhigeren Ostseegefilden in Sicherheit gebracht.
Zur Handelsmarine: Das war der Berufswunsch des 16-jährigen Leipzigers, der im April 1942 in Begleitung seines Vaters nach Flensburg gekommen war, und dort „erwartungsvoll dem Schiff und seiner Zukunft“ entgegensah, berichtet Böhnstedt in dem Buch. Sein erster Eindruck an Bord: „Ein Wald von Masten und Tauen“. Die Viermastbark mit einer Segelfläche von fast 4200 Quadratmetern war im Jahr 1921 vom Stapel der Germaniawerft in Kiel gelaufen. Auftraggeber war die Bremer Reederei F.A. Vinnen & Co. – die älteste Reederei Bremens und eine der ältesten in ganz Deutschland, gegründet 1819 und mittlerweile in siebter Generation familiengeführt. Unter dem Namen „Magdalene Vinnen II“ – benannt nach der Ehefrau des Reeders – ging das Segelfrachtschiff 15 Jahre lang auf große Fahrt, lud Salpeter aus Chile, Weizen aus Australien, und umsegelte dabei mehrfach das gefährliche Kap Hoorn.
Im Jahr 1936 kaufte der Norddeutsche Lloyd den Viermaster, baute ihn zum Segelschulschiff um und taufte ihn zu Ehren seines Kapitäns Nicolaus Johnsen um. An das Schiff – und damit an den Namensgeber – erinnert auch eine der jungen Straßen in der Überseestadt, der Kommodore-Johnsen-Boulevard.
Johnsen (1869-1932), der den Rang des Kommodore als dienstältester Kapitän seiner Reederei führte, hatte 1930 die „Europa“ auf ihre legendäre Jungfernfahrt von Bremerhaven nach New York geführt: Es war die seinerzeit schnellste Transatlantiküberquerung eines Passagierschiffes. Bei seiner letzten Fahrt mit der Europa starb Johnsen an Bord an den Folgen einer Blinddarmoperation.
Das Erinnerungsbuch der einstigen Kadetten endet mit der „Stunde Null“. Danach fiel das Schiff als Reparationsleistung an die Sowjetunion, wurde auf den Namen „Sedov“ umgetauft und dient bis heute als Schulschiff und als schwimmendes Museum. In besseren Zeiten war die Sedov, Heimathafen Kaliningrad, mehrfach als Attraktion auf : die Windjammerparaden zu Gast – so beim Hamburger Hafengeburtstag, den Kieler Wochen und der Hanse Sail Rostock. 2005 diente der rund 120 Meter lange historische Großsegler als Drehort und Kulisse für den Fernsehfilm „Der Untergang der Pamir“.
Das Konvolut an Erinnerungen wird nun in der Bibliothek des Hafenarchivs im ehemaligen Kellogg-Verwaltungsgebäude an der Muggenburg 30 aufbewahrt. Unter der Leitung von Wilfried Brandes-Ebert wird dort alles gesammelt, geordnet und aufbereitet, was mit der Geschichte der stadtbremischen Häfen zu tun hat. Wer im Archiv auf Recherche gehen oder interessante Dokumente zur Sammlung beitragen möchte, findet zu den Öffnungszeiten mittwochs 12 bis 18 Uhr und donnerstags von 14 bis 17 Uhr kompetente und enthusiastische Ansprechpartner. Weitere Infos: www.kulturhauswalle.de.