Zwei barackenartige Behelfsbauten mit knarzenden Dielen und zugigen Fluren: So bescheiden und unprätentiös war der Geburtsort des Schulzentrums am Rübekamp. Im Schuljahr 1976/77 nahm die gymnasiale Oberstufe auf einem Grundstück an der Lissaer Straße ihren Betrieb auf, unter einfachsten Bedingungen, aber mit umso mehr Idealismus und Leidenschaft. Wie alles angefangen hat, und was sich daraus im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat: davon lässt sich so viel erzählen, dass es ein schweres, dickes Buch füllt. Viele Autorinnen und Autoren haben aus ganz unterschiedlichen Perspektiven ihre Erinnerungen beigetragen – allen voran die „Rüben“ der ersten Stunde, Lehrkräfte, Schulsekretärinnen, Hausmeister, Absolventen. „Im Westen was Neues“ nannten sie den großformatigen Band mit fast 300 Seiten und ebenso vielen Abbildungen, der vor Kurzem in der Bremer Edition Temmen erschienen ist. Für die Generationen, die ihnen folgten, haben sie die wechselhafte Biografie einer Schule geschrieben, die mit dem Anspruch gegründet wurde, anders, besser, menschlicher zu sein als alle anderen.
Der erste Schultag an dieser völlig neuen Schule muss so wenig feierlich gewesen sein, dass sich Klaus Hellmerichs gar nicht mehr daran erinnern kann. Umso besser ist dem ersten Oberstufenkoordinator des Rübekamp das vierzigjährige Bestehen präsent geblieben. Am 1. September 2016 feierte die junge Generation – Kollegium, Jugendliche, Eltern – ihre Schule mit einem offiziellen Festakt und einem großen Schulfest. Was dabei zu kurz kam, war der Blick zurück, so Hellmerichs. „Wie ich hatten auch andere Kollegen der ersten Stunde das Gefühl, dass da etwas in Vergessenheit geraten ist“, sagt der pensionierte Pädagoge. Sein Fazit: „Wenn wir nicht selber etwas zur Geschichte unserer Oberstufe schreiben würden, würde es vermutlich niemand mehr tun.“ Für sein Vorhaben gewann er seine Kollegen Ursula Broicher, Annemarie Creutz, Eberhard Dobers und Ulrich Juchheim. Aus der ursprünglich geplanten kurzen Schulchronik wurde nichts. Vier Jahre nach der besagten Jubiläumsfeier kann das Redaktionsquintett stattdessen etwas viel Größeres präsentieren. Es ist nichts weniger als die Geschichte eines spektakulären pädagogischen Großversuchs, der bereits Anfang der 1970er-Jahre begonnen hatte.
Zum Schuljahr 1970/71 hatte im Bremer Westen die erste Gesamtschule der Stadt ihre Arbeit aufgenommen. Bundesweit herrschte damals Aufbruchstimmung in der Bildungspolitik, erklärt Klaus Hellmerichs, doch „kein anderes Bundesland hat sich von der Reformeuphorie der späten 1960er-Jahre derart beflügeln lassen.“ Der Handlungsbedarf war allerdings allenthalben akut: In der Bundesrepublik hatte man einen alarmierenden Bildungsnotstand, gar eine Bildungskatastrophe diagnostiziert. Im Vergleich der europäischen Länder stand man am unteren Ende. Progressive Bildungswissenschaftler machten dafür die rigide Dreiklassengesellschaft des traditionellen deutschen Schulsystems verantwortlich. Mit mehr Durchlässigkeit und mehr und individuellerer Förderung sollte es möglich sein, für höhere Bildungsabschlüsse, besser qualifizierteren Nachwuchs und mehr Chancengleichheit zu sorgen. Gesamtschulen entstanden im ganzen Land.
Als Gründungsort für die erste Bremer Gesamtschule hatte der Bildungssenator bewusst einen Teil der Stadt gewählt, in dem viele Arbeiterfamilien zuhause waren. Die Gesamtschule West (GSW) zeigte aber auch Magnetwirkung für reformorientierte, häufig akademische Elternhäuser aus wohlhabenderen Stadtteilen. Es sollte dann aber noch Jahre dauern, bis die Politik ihr Versprechen einhielt, die Kinder vor Ort auch zum Abitur zu führen. „Es waren vor allem die Eltern, die sich die gymnasiale Oberstufe erkämpften“, erklärt Hellmerichs.
Der erste Oberstufenjahrgang startete unter der Leitung von Rainer Koy mit vier Mobilbauklassen und einem jungen achtköpfigen Kollegium – keiner davon mehr als zehn Jahre älter als die Schülerinnen und Schüler. „Wir waren alles Zugereiste“, erklärt Annemarie Creutz, die als Lehrerin für Mathematik, Politik und Soziologie nach Walle gekommen war. Aus der jungen Bremer Universität gab es noch nicht viele Lehramtsabsolventen. Altgestandene Gymnasiallehrer ließen sich nicht gewinnen. „Manche sahen in der so genannten Einheitsschule den Untergang des Abendlandes“, sagt Hellmerichs. Das junge Kollegium sah es ganz anders: „Viele von uns glaubten, über Erziehung und Bildung die Gesellschaft verändern zu können.“
Wer heute an den Rübekamp denkt, hat sofort die unverwechselbare Architektur im Sinn: Den Rotklinkerbau, die verwinkelten Flure und Gänge, die eingebauten Pflanzkästen und die Vitrinen im Foyer, das außergewöhnliche Forum für Versammlungen und Feierlichkeiten. Diese Gestaltung, die völlig aus dem Rahmen des zeitgenössischen „Betonstils“ öffentlicher Bauten fiel, hatte sich der Architekt Kristen Müller ausgedacht, und im Sinne ihrer künftigen Nutzer hartnäckig bei den zuständigen Behörden erstritten. Im Januar 1981 wurde der erste Abschnitt des Neubaus eingeweiht. Diesmal gab es eine richtige Feier: Der damalige Elternsprecher schwärmte von einer der „schönsten Schulen Bremens“. Der amtierende Bildungssenator Horst von Hassel beschwor in seiner Laudatio die Zukunft einer höheren Schule, „in der Kinder aller Begabungsgruppen optimal auf die Ziele ihrer Ausbildungsgänge hin vorbereitet werden.“
Studien zeigen: Die Bildungsgleichheit ist ein gesellschaftlicher Dauerauftrag geblieben. Trotz vieler Experimente hat bislang noch immer niemand das universelle Patentrezept für eine perfekte Schule gefunden, und in vielen Bereichen könnte zweifellos vieles viel besser werden. Dennoch endet das Buch mit einer versöhnlichen Bilanz: Es schließt mit der Liste von Tausenden junger Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten am Rübekamp ihr Abitur bestanden haben. Viele davon haben die „menschliche Schule“ im Bremer Westen in prägender Erinnerung behalten, wie eine Auswahl von Rückmeldungen ehemaliger „Rüben“ beweisen. Zu lesen ist darin von den „schönsten und lehrreichsten Jahren in meinem Leben“ und von einem „Schatz, von dem ich auch heute noch zehre“.
Weitere Informationen
„Im Westen was Neues. Zur Geschichte der Gymnasialen Oberstufe am Rübekamp“, herausgegeben von Klaus Hellmerichs, ist zum Preis von 19,90 Euro im Buchhandel unter der ISBN 978-3-8378-1054-7 erhältlich.