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Corona-Ausbruch in Pflegeheim Wie der Leiter die Covid-Krise erlebt

Ihren Stützpfeiler nennt seine Belegschaft Plegeheimleiter Thomas Gerbert-Jansen. Wie er den gravierenden Corona-Ausbruch in der Woltmershauser Einrichtung bewältigt.
28.01.2021, 05:00 Uhr
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Wie der Leiter die Covid-Krise erlebt
Von Karin Mörtel

„Eigentlich müssten wir uns alle mal zusammensetzen und gemeinsam heulen.“ Thomas Gerbert-Jansen sagt das ganz nüchtern, wenn er über den Gemütszustand im Pflegeheim Haus Weserhof in Woltmershausen spricht. Er leitet das Haus seit sechs Jahren und er hätte allen Grund, verzweifelt zu wirken oder auch traurig. Schließlich hat er während der zurückliegenden sieben Wochen den gravierendsten Corona-Ausbruch in einem Bremer Pflegeheim seit Beginn der Pandemie miterlebt. Und musste seine Belegschaft, die gesunden und kranken Bewohner sowie die Angehörigen durch diese schwere Zeit begleiten.

Und natürlich auch die vielen Hinterbliebenen: Allein 19 Bewohnerinnen und Bewohner sind mit oder an Corona verstorben, hinzu kommen diejenigen, die aus anderen Gründen im Dezember und Januar gestorben sind. „Ein dramatisches Erlebnis für alle Beteiligten, hier sind so viele Betten leer, das macht vielen Angst“, so der Heimleiter.

Corona-Ausbruch in Woltmershausener Pflegeheim gilt als überstanden

Er tröstet und erklärt die Lage, pausenlos klingelt sein Telefon. Wie er sich fühlt? Angespannt. Weil Corona nicht einfach aufhört, nur weil der Ausbruch seit etwa zwei Wochen als überstanden gilt. Von den ursprünglich seit Mitte Dezember 92 infizierten Bewohnern und 44 infizierten Mitarbeitern sind nur noch zwei Bewohner im Krankenhaus in Behandlung, fünf weitere müssen noch auf ihren Zimmern in Quarantäne bleiben.

Knapp zwanzig Quadratmeter sind das, auf denen vereinzelte Bewohner schon seit mehr als sechs Wochen leben müssen. Der Rest des Hauses darf seit Dienstag wieder auf die Flure und – wer es körperlich schafft – seit Mittwoch wieder nach draußen.

Viele Mitarbeiter im Pflegeheim waren infiziert

Eine gespenstische Stimmung muss das an Weihnachten gewesen sein: In Schutzanzügen vermummte Pflegekräfte auf den geschmückten Fluren, die die Bewohner nicht betreten durften. Viele Mitarbeiter waren selber infiziert und konnten nicht mit ihren Familien feiern. „Auch ich hatte keine Kraft, mit meinem Enkelkind sein erstes Weihnachtsfest zu verbringen“, bedauert Gerbert-Jansen. Direkten Kontakt zu Freunden hat er schon länger keinen mehr. „Die meiden mich wie der Teufel das Weihwasser“, sagt er und kann das auch verstehen.

Am kommenden Montag kommt der große Tag: Die Türen werden wieder für die Angehörigen geöffnet. „Wir müssen da schrittweise vorgehen, damit wir nicht bald wieder dicht machen müssen“, sagt Gerbert-Jansen.

Auch wenn das Impfteam demnächst ins Heim kommen sollte, wird es nicht der erhoffte Befreiungsschlag sein, fürchtet der Heimleiter. Zweidrittel seiner Bewohner waren infiziert, sie alle werden wohl zunächst keine Impfung bekommen. Was folgt daraus, fragt er sich. Und kennt wieder nur die eine Antwort: „Corona kennt keine Spielregeln.“ Die ständige Ungewissheit ist es, die ihn dünnhäutig werden lässt.

Und trotzdem muss er seit Mitte Dezember am Fließband Probleme lösen: Zum Beispiel, wie er demente, infizierte Heimbewohner, die nicht verstehen können, dass sie in ihren Zimmern in Quarantäne bleiben sollen, daran hindern kann, andere anzustecken. „Wir können sie ja nicht einsperren“, so der Heimleiter. Mit Umzügen innerhalb des Hauses hat er versucht, die Gesunden vor Kontakt mit den Infizierten zu schützen.

Die Herausforderung: Trotz Corona den Betrieb aufrechterhalten

Ein Kraftakt sei es zudem gewesen, den Dienstplan trotz der vielen infizierten Mitarbeiter ohne Doppelschichten aufrecht zu erhalten. Und nun schränken Schulen und Kindertagesstätten ab Februar ihren Betrieb noch weiter ein.

Arbeiten, nach Hause fahren, essen, schlafen und wieder zurück zur Arbeit – so sah sein Alltag über viele Wochen aus. „Eigentlich ist Gärtnern mein großes Hobby, aber seit September weiß ich gar nicht mehr, wie es hinter meinem Haus aussieht“, sagt er.

Teilweise bis zu 17 Arbeitsstunden an sechs bis sieben Tagen in der Woche. Er ist es nicht, der diese Rechnung aufmacht. Gerbert-Jansen bestätigt nur, was seine Mitarbeiter in einem offenen Brief beschreiben, den sie gemeinsam mit fast 70 Unterschriften an den WESER-KURIER gesendet haben.

Darin nennt die Belegschaft den Heimleiter ihren „Stützpfeiler“ und drückt ihren Dank für seinen unermüdlichen Einsatz und ihre Sorge um seine Gesundheit aus: „Dass man 20 Tage am Stück und täglich 15 bis 17 Stunden durcharbeitet und sein eigenes Privatleben zurückstellt ist nicht selbstverständlich“, heißt es in dem Schreiben.

Begleitung für sterbende Bewohner

Gerbert-Jansen selbst kann an seinem Verhalten nichts heldenhaftes erkennen. „Das ist meine Aufgabe, die Leute bei der Stange zu halten“, sagt er. Das Team entlasten bedeutet für ihn, „möglichst immer vor Ort sein.“ Da sein für Gespräche mit Mitarbeitern, Bewohnern und Angehörigen. Wenn klar wurde, dass Bewohner sterben würden, war es den Angehörigen gestattet, unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen ans Sterbebett zu kommen. „Das hat vielen Angehörigen geholfen“, glaubt Gerbert-Jansen.

Manchmal, wenn sich die öffentliche Corona-Diskussion wieder einmal um Probleme in Schulen und Kindergärten dreht, kommt dieses Gefühl in ihm auf, in einem Paralleluniversum zu leben. „Ich verstehe nicht, was die wollen: Wir haben die Toten, nicht die Schulen und Kindergärten“, sagt er und spricht zum ersten Mal etwas energischer. Seine ursprüngliche Hoffnung, die Politik und der Rest der Gesellschaft werde die Corona-Pandemie zum Anlass nehmen, jetzt endlich genauer bei den Bedürfnissen der Pflegenden und der Heime hinzuschauen, hat sich mittlerweile zerschlagen.

Ausstieg aus der Pflege

„Die Pflege bleibt offenkundig das Stiefkind der Nation“, sagt der 54-Jährige. Und er zieht seine ganz eigenen Rückschlüsse aus der Pandemie: „Für mich bedeutet das wohl den Ausstieg aus der Pflege.“ Nicht sofort, aber irgendwann wolle er sehen, ob es noch andere berufliche Möglichkeiten für ihn gibt.

Zunächst erhofft er sich aber wieder Normalität in seinem Heim. Er versucht, psychologischen Beistand zu bekommen für die Belegschaft, um das Erlebte verarbeiten zu können. Die Alltagsroutine, so sagt er, würde den Mitarbeitern und Bewohnern Sicherheit geben. Zugleich weiß er, dass er noch einige Zeit warten muss, bis wieder Stimmengewirr und Tellerklappern aus dem momentan verwaisten Speisesaal zu hören sein wird. Auch wenn die Türen sich wieder öffnen, die Hygienemaßnahmen werden bleiben. Gerbert-Jansen: „Und wenn ich unken wollte, würde ich vermuten, nächstes Weihnachten sitzen wir hier wieder alleine da.“

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