Vier Mal haben sich Bremer Abgeordnete wegen Hassmails oder Kommentaren in den sozialen Netzwerken, die jegliche Form von Anstand vermissen ließen, bei der Polizei gemeldet – zwischen 2013 und 2018. Das ist die offizielle Zahl, über sie hatte der WESER-KURIER vor wenigen Tagen berichtet. Die tatsächliche Zahl der Politiker und Politikerinnen in Bremen, die im Internet bereits zum Ziel von Trollen und ihrem Hass geworden sind, dürfte weitaus höher liegen.
Eine von ihnen ist Wiebke Winter. Sie wird in der Statistik für 2019 auftauchen, denn sie hat zwei Anzeigen erstattet. Die Vorsitzende der Jungen Union (JU) hat in den vergangenen Wochen verschiedene Formen virtueller Bedrohung erlebt: einen Stalker und einen Shitstorm. In Winters Fall hing beides mit ihrem politischen Engagement zusammen – grundsätzlich aber kann es jeden treffen, der bei Facebook, Instagram, Snapchat oder Twitter aktiv ist. Politiker müssen ein dickeres Fell haben, den Hass anderer Menschen auch einfach mal aushalten. Das weiß und das akzeptiert auch Winter. Aber es gibt eine Grenze, findet sie. Sie sagt: „Viele sprechen nicht darüber, dass sie bedroht werden. Ich weiß aber, dass ich nicht die Einzige bin.“ Wiebke Winter will anderen Mut machen, indem sie darüber spricht. Und sie fordert, dass Hass-Postings als Straftaten gelten und entsprechend verfolgt werden sollten.
Zuerst habe sie es nicht ernst genommen, erzählt die 23-Jährige, als im Juni ein Mann begann, auf dem JU-Account bei Facebook Fotos und Posts von ihr zu kommentieren. „Als dann irgendwann 20 bis 30 Kommentare pro Stunde von ihm kamen, dachte ich auch erst noch, dass das ein Bot (automatisches Computerprogramm, d. Red.) ist.“ Aufgrund der Art der Kommentare aber, die zum Teil in sexuellem Kontext standen, informierte Winter ihre Parteikollegen und ließ den Mann auf dem Account blockieren. „Und dann tauchte er bei einer Veranstaltung der Jungen Union auf, auf der ich nur zufällig nicht anwesend war“, sagt sie. „Ich weiß nicht, wie gefährlich er ist, aber das war schon eine Situation, in der ich mich sehr unter Druck gesetzt gefühlt habe. Und in der ich gemerkt habe, dass man solche Vorfälle ernst nehmen muss.“
Den Shitstorm erntete sie, nachdem sie Anfang August in der „Diskuthek“, einem Internet-Videoformat des Magazins „Stern“, in einer Gesprächsrunde Stellung genommen hatte zur Legalisierung von Cannabis. „Ich bin dagegen“, sagt Wiebke Winter, „und ich glaube, diese Meinung sollte man in einer demokratischen Gesellschaft vertreten können.“ Das Video ist auf Youtube mehr als 400.000 Mal aufgerufen und mehr als 8500 Mal kommentiert worden, viele Beiträge gehen gegen Winter. Zusätzlich schnitt der Youtuber Simon Ruane alias „Open Mind“, ein Befürworter der Legalisierung von Cannabis, ihre Aussagen zu einem diskreditierenden Video zusammen – seit Anfang September kann man es bei Youtube finden, flankiert von Kommentaren wie „CDU Verbrecher. Die Dame müsste man erst mal im Bett erziehen“; es stand zwischenzeitlich auch auf einem Porno-Portal.
Eine rote Linie wurde überschritten
„,F... dich' berührt mich schon gar nicht mehr“, sagt Winter, „ich schaue mir die Kommentare auch inzwischen nicht mehr an.“ Eine rote Linie überschritten war für die JU-Politikerin allerdings, als ihr jemand per Sprachnachricht mitteilte, sie gehöre in die Gaskammern von Auschwitz. Das zeigte sie an; und in dem Fall des Mannes, der ihr nachstellte, erwirkte sie per Anwalt ein Näherungsverbot. Sie hat Hilfe beim Weißen Ring gesucht und bekommen, auch beim Stalking-KIT des Täter-Opfer-Ausgleichs.
„Mich ärgert, dass man strafrechtlich verfolgt werden kann, wenn man im Auto sitzt und jemandem den Stinkefinger zeigt, aber nicht, wenn man jemanden im Netz beleidigt“, sagt Winter. Fälle wie den der Grünen-Bundestagsabgeordneten Renate Künast, die laut dem Urteil des Landgerichts Berlin Beleidigungen wie „Drecksfotze“ und „Geisteskranke“ hinzunehmen hat, findet sie „erschreckend“. „Am Ende kommt dabei heraus, dass man sich nicht mehr traut, seine Meinung zu vertreten.“ Auch sie selbst hat in den vergangenen Wochen von ihrer Familie und Freunden die Frage gestellt bekommen, ob sie denn finde, die Politik sei die ganze Sache wert. „Mir ging es definitiv nicht gut“, sagt Winter. Aber die Politik hinzuwerfen, kam für sie nicht infrage.Ebensoo wenig, sich von den sozialen Plattformen zurückzuziehen. „Das wäre der falsche Weg. Außerdem gehen die Kommentare ja auch nicht weg, nur weil ich das Handy ausmache.“
Entscheidungen wie zuletzt die vom Europäischen Gerichtshof, nach der Online-Dienste wie Facebook oder Youtube gezwungen werden können, rechtswidrige Beleidigungen und Kommentare aufzuspüren und zu löschen, hält Wiebke Winter für „einen Schritt in die richtige Richtung“. „Eine Beleidigung ist in Sekunden geschrieben und veröffentlicht, es bedarf meistens aber langer Gerichtsvorgänge, um sie zu löschen“, sagt sie und fordert deshalb speziell für diese Fälle geschultes Justizpersonal. Und es brauche Regeln, mit denen diffamierende Kommentare im Netz bestraft werden können. Um sie zu entwickeln, sieht Winter auch die Jugendorganisationen der Parteien in der Pflicht. „Es sind ja vor allem die jungen Leute, in deren Leben Social Media ein wichtiger Teil ist.“