Wo geht’s denn hier zum Büro der Schulleiterin? Annerose Thomas aus der Bahnhofsvorstadt musste erst mal ganz schön suchen, als sie dieser Tage in die Schule an der Helgolander Straße kam. „Das ist ja alles neu hier – diese Anbauten kenne ich gar nicht“, erzählt die Bremerin, die Anfang der 1950er-Jahre hier zur Schule gegangen ist.
Was sie während dieser Zeit erlebt hat – unter anderem begegnete sie dank der damals außerordentlich fortschrittlichen Koedukation von Mädchen und Jungen ihrer großen Liebe – schilderte sie nun Diplom-Kulturpädagogin, Moderatorin, Entertainerin und Musikerin Frauke Wilhelm.
Wilhelm nämlich ist im Namen der 1916 erbauten Waller Schule auf Spurensuche gegangen und hat nun einen Nachmittag lang Zeitzeugen interviewt; pünktlich zum 100. Geburtstag Anfang Juni will sie eine Ton-Bild-Collage zur Geschichte der heutigen Oberschule vorlegen.
Und die ist durchaus bewegt. So war das Gebäude während des Ersten Weltkriegs als Auffanglager für französische Soldaten genutzt worden und wurde ab 1921 als Versuchsschule betrieben. Lehrer und Eltern arbeiteten dort Hand in Hand, um mit den Kindern neue Wege der Reformpädagogik zu beschreiten. Dazu gehörte auch die Erziehungsarbeit im Schullandheim – 1926 erwarb die Schule ein ehemaliges Kötnerhaus in Ristedt bei Syke, das Eltern und Lehrer in Eigenarbeit für die Mädchen und Jungen herrichteten.
„Ristedt war klasse, da war es noch richtig urig. Um auf die Toilette zu gehen, musste man raus, und es gab kein Haus weit und breit“, kann sich Annerose Thomas noch sehr gut erinnern, wie es dort in den 1950er-Jahren aussah. Die Jungs jagten damals eines Tages den Mädchen einen gehörigen Schrecken ein: „Die haben Schlangen eingesammelt und sie dann nachts im Riesen-Schlafsaal losgelassen, das fanden wir nicht so prickelnd.“
Im Klassenzimmer saß hinter einer Sicherheitsabtrennung ihr gegenüber damals ein Junge, schildert die Bremerin: „Der hat mich immer wieder mit Tinte und Feder geärgert.“ Was ihr bis heute leid tut: Sie rammte damals dem Plagegeist schließlich ihren Füllfederhalter in den Handrücken. Die Geschichte nahm aber eine überraschende Wendung – viele Jahre später nämlich wurden die beiden ein Paar und heirateten.
Mit Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933 und der Gleichschaltung war die reformpädagogische Arbeit an der Helgolander Straße zum Stillstand gekommen, wurde jedoch ab 1948 wieder aufgenommen. Musiker Egon Ramme – Künstlername: Egon Rammé – und Hans Georg Rupp waren 1940 an der Helgolander Straße eingeschult worden und gehörten zu den ersten Kindern, die in den Nachkriegsjahren wieder dort zur Schule gingen. „Die Schule konnte erst Ende 1946 wieder bezogen werden, vorher waren wir in der Schule an der Elisabethstraße untergebracht“, erzählt Hans Georg Rupp, dessen Vater bis 1942 schräg gegenüber der Schule einen Lebensmittelladen betrieb. Dort wurden die Bonschen noch einzeln verkauft – und andere Kinder, die seinen manchmal vielleicht etwas überheblichen Sohn vertrimmen wollten, besänftigte Hans Georg Rupps Vater immer schnell mit ein paar der begehrten Süßigkeiten.
In den Nachkriegsjahren herrschte Mangel: Zwei bis drei Kohlebriketts musste deshalb jeder Schüler mitbringen, um das Schulgebäude beheizen zu können – und wer mit leeren Händen kam, wurde gleich wieder nach Hause geschickt, wie sich Egon Ramme noch erinnert. Bis heute denken die beiden ehemaligen Klassenkameraden immer gern an ihren „Lehrer Gärtner“ zurück. Eher feinfühlig sei der gewesen, beschreibt Hans Georg Rupp, und er habe die Kinder eher aus dem Leben heraus als streng anhand von Büchern unterrichtet.
Fast 20 Ehemalige – Schüler und Lehrer – waren es schließlich, die Frauke Wilhelm und ihrem Team im „Erzählcafé“ alte Klassenfotos, Schulaufsätze in Schönschrift und spannende Geschichten lieferten. Darunter auch eine Lehrerin, die von 1974 bis 2012 an der Schule unterrichtet hat und von spannenden Auslandsklassenfahrten zu berichten wusste – für die Waller Kinder waren diese Reisen nach Frankreich, Spanien oder Italien in den 1970er- und 80er- Jahren noch etwas ganz Besonderes.
„Die Schule hat einen großen Wandel durchgemacht. Und doch: Vor einigen Jahren wurden dort wieder Konzepte entwickelt, die sich an den Stärken der Schüler orientieren und die Schüler starkmachen wollen – ganz im Sinne der Reformschule“, sagt Frauke Wilhelm. Sie wird nun aus dem gesammelten Material eine Tonbildcollage zusammenstellen, die beim Schuljubiläum am Donnerstag und Freitag, 9. und 10. Juni, erstmals vorgeführt wird und dann auch käuflich zu erwerben ist.