Rund 40 Millionen Menschen auf der Erde sind blind. Für die meisten ist der Blindenstock die einzige Hilfe zur Orientierung in einer für sie unsichtbaren Umwelt; nur wenige haben einen Blindenhund. Ein Absolvent der Bremer Constructor University will jetzt eine Spezialbrille auf den Markt bringen, die die Aufgaben eines Blindenhundes übernehmen soll. Die Technologie für die Brille wurde in den USA gerade patentiert; das Patent der Europäischen Union soll folgen.
Lumen – so heißt das Unternehmen, das der Rumäne Cornel Amariei gegründet hat. Das Wort kommt aus dem Lateinischen (für "Licht") und ist in der Physik die Maßeinheit für die Lichtmenge, die ein Leuchtkörper abgibt. Sehen können Blinde zwar auch mit der neuen Brille nicht. Aber ihr Erfinder ist davon überzeugt, dass die Brille den betroffenen Menschen ein ganz neues Maß an Mobilität und Selbstbestimmtheit ermöglicht.
"Die Technologie kopiert die Fähigkeiten eines Blindenhundes", erklärt Amariei. Die speziell ausgebildeten Vierbeiner nehmen den Blinden sozusagen "an die Hand" und steuern ihn so um alle Hindernisse herum. Aber es gibt zu wenige gut ausgebildete Blindenhunde. Sie sind teuer und kommen nur für die Wenigsten als Unterstützung infrage. „Hier kommen wir ins Spiel“, sagt Amariei. Denn die Lumen-Brille macht das Gleiche wie ein Blindenhund, nur mit viel High-Tech. Die Technik ähnelt der des autonomen Autofahrens: In das schlanke Gestell der Brille sind Kameras integriert, die die Umgebung erfassen; Computerchips berechnen den gewünschten Weg. Die Informationen werden als Signale und Töne über Kopfhörer an den Blinden weitergegeben. „Was diese Technik in Kombination mit Neurowissenschaft ermöglicht, ist einfach unglaublich“, schwärmt Amariei.
Karriere eines "Wunderkinds"
Unglaublich klingt auch die Karriere des 29-Jährigen: Amariei wuchs in Bukarest auf, mit drei Jahren konnte er lesen und mit sieben Jahren programmieren. Noch zu Schulzeiten gründete er den ersten Robotik-Club des Landes sowie zwei Unternehmen. An der Constructor University, die damals noch Jacobs University hieß, studierte er Elektrotechnik und Informatik. „Ohne die Impulse aus der Universität würde Lumen heute nicht existieren“, versichert der 29-Jährige. „Das Studium dort war die beste Erfahrung meines Lebens.“ Auf dem Gründerwettbewerb der internationalen Universität 2014 stellte er seine Idee mit der High-Tech-Brille erstmals vor. Die Jury war angetan, sein Team gewann. Auch in seiner Bachelor-Arbeit beschäftigte er sich mit der Frage, wie sehbehinderte Menschen einen bildhaften Eindruck von ihrer Umgebung erlangen können. Aus seiner Familie weiß Amariei, was ein Leben mit körperlichen Einschränkungen bedeutet.
Nicht zuletzt aufgrund von Lumen setzte ihn das US-Wirtschaftsmagazin Forbes 2016 auf die Liste der 30 einflussreichsten jungen Menschen unter 30 in Europa. Weitere Auszeichnungen wie die Aufnahme in die „Global Business Hall of Fame“ und die Anerkennung als eine der „Ten Outstanding Young Persons of the World“ von der Junior Chamber International folgten.
Nach dem Studienabschluss arbeitete Amariei zunächst als leitender Ingenieur für den Automobilzulieferer Continental und stieg dort schnell zum Leiter für Innovationen auf. Lumen aber ließ ihn nicht los. 2020 gründete er das Start-up; die Technologie war inzwischen so weit fortgeschritten, dass die Brille nur noch wenige hundert Gramm wiegt. Mehr als 40 Mitarbeitende zählt Lumen inzwischen.
Der Europäische Innovationsrat, der im Auftrag der EU-Kommission neue Technologien fördern soll, hat 9,3 Millionen Euro für das Projekt bewilligt – als erstes rumänisches Unternehmen überhaupt erhielt Lumen eine derartige Förderung. Im Laufe des nächsten Jahres könnte die Brille auf den Markt kommen, glaubt Amariei, zunächst in Europa und den USA. Ganz billig wird die High-Tech-Brille nicht: Rund 5000 Euro wird sie kosten. Doch im Gegensatz zu Blindenhunden lässt sich die Brille auch in großen Stückzahlen produzieren. Und je schneller sich die Technologie weiterentwickelt und je mehr Exemplare der Brille hergestellt werden, desto günstiger wird sie werden, davon ist Amariei überzeugt.