Der Weg hinauf in die Gießhalle von Hochofen 2 führt über eine lange Rampe. Dem Himmel jedoch kommt man so keinen Schritt näher. Von der Weser zieht kalter Nebel in die offene Halle, während durch Ritzen und Roste im Beton glutrote Hitze wabert. Die Hölle liegt nur ein Stockwerk tiefer. „Früher hat man hier nie gefroren, auch im Winter nicht“, sagt Stefan Bolz, Schmelzer am Hochofen 2 von Arcelor-Mittal Bremen. „Heiß und staubig war es eigentlich immer.“ Mittlerweile gilt auch im Vorhof der Hölle das deutsche Arbeitsschutzgesetz.
Es riecht nach Gas und Eisen – was ja kein Wunder ist, wenn am anderen Ende der Halle ein 70 Meter hoher Ofen raucht, der zum Bersten gefüllt ist mit glühendem Erz und Koks. 5500 Tonnen Roheisen erschmilzt Hochofen 2 zurzeit jeden Tag; wenn man ihm noch ein bisschen mehr Feuer macht, können es auch 8000 sein. Aber trotz der Ausdünstungen des erzerweichenden Nimmersatts ist die Luft in der Gießhalle, direkt an der „Ofenklappe“, erstaunlich klar. Rauchabzüge und Abdeckhauben bändigen das Biest.
Als Bolz hier vor bald 30 Jahren zum ersten Mal stand, war das noch anders. Eigentlich hatte er eine Brauerlehre bei Beck & Co. begonnen. „Aber, na ja, wie das so ist“, sagt er. „Ich war zu jung, hatte Flausen im Kopf.“ Mehr muss dazu nicht gesagt werden. Aus dem Bierbrauer wurde jedenfalls ein Schmelzer am Hochofen. Ungelernt. Auch das war damals nicht ungewöhnlich. Man musste halt anpacken können auf der Hütte, das reichte. Der Job am Hochofen jedoch muss ihm wie eine Strafe Gottes vorgekommen sein, denn schon am ersten Tag stand für ihn fest: „Hier bleib ich keine drei Monate.“
Bolz ist dann doch geblieben. Bis heute. Er holte die Lehre nach, wurde 2001 Oberschmelzer und 2013 Vorarbeiter. Heute trägt der 51-Jährige den breiten Schmelzerhelm mit Stolz, ist Chef der fünf Männer, die sich an diesem Tag in der Spätschicht um Ofen 2 kümmern. In Sichtweite liegt der kleinere Hochofen 3, auch mit fünf Mann besetzt. Dazu drei Männer in der Messwarte, wo eine ganze Wand voller Bildschirme jedes Schnaufen und Röcheln in den Öfen überwacht. Zusammen sind sie in der Spätschicht also gerade mal ein gutes Dutzend Männer, die den Fluss des Eisens kontrollieren. Auch ein paar Frauen arbeiten mittlerweile im Hochofenwerk.
Den nächsten Abstich am Ofen 2 hat die Warte auf 14.48 Uhr festgesetzt. Bis dahin werden sich wieder ein paar hundert Tonnen Eisen im Gestell angesammelt haben, die abgelassen werden müssen. Bolz beobachtet den Bagger, der den Rand der Abflussrinne mit Sand abdeckt. Wenn hier gleich das Eisen spritzt, soll nichts anbacken – das würde die Reinigung erschweren. Die Arbeit am Hochofen ist weitgehend mechanisiert, Maschinen ersetzen Menschenkraft. „Früher waren hier viele wie ich damals – Friseure, Bäcker, Ungelernte“, sagt Bolz. „Heute sind das qualifizierte Arbeitskräfte, alle multitaskingfähig.“ Sie fahren Bagger, bedienen Bohrer und Stopfmaschinen per Fernbedienung und wissen genau, was im Ofen vor sich geht.
„Aber ein Hochofen ist kein Radio, das man laut und leise dreht“, sagt Bolz. „Irgendwelche Störungen gibt es immer.“ Dann müssen sie von Hand ran, „da, wo es sehr heiß und auch schmutzig ist“, sagt Bolz. Am Stichloch erreicht die Luft mehrere hundert Grad. Nur ihre Spezialkleidung schützt die Hochöfner dort vor der sengenden Hitze: ein feuerfester Silbermantel, Helm, Visier, Stiefel, Handschuhe. „Sonst hätten wir hier alle glatte Frauenbeine“, sagt Bolz und grinst. Brandnarben trägt er trotzdem, an Schienbein und Händen – wenn man halt nicht aufpasst und die Regeln missachtet. Eigentlich lieben sie die Hitze: „Hochöfner sind Frostködel“, sagt Bolz. „Die brauchen die Wärme.“
Ein quengelnder Alarmton kündigt den Abstich an. 14.48 Uhr. Einer der Schmelzer steht im Silbermantel nur wenige Meter vom Ofen entfernt und bringt per Fernbedienung den Bohrer in Position, der so groß ist wie eine Feldhaubitze. Dröhnend schraubt sich das Gestänge in die Stopfmasse, die das Stichloch verschließt. Dann stieben die Funken, meterhoch, als könnte das Eisen es kaum erwarten, dem Ofen zu entrinnen. 1500 Grad – der Ofen ist nach ein paar Stillständen in den vergangenen Tagen heute besonders heiß. Feuerschein gleißt durch die Halle, ein paar rostbraune Schwaden entkommen dem Rauchabzug über dem Schlund.
Der Schmelzer schwenkt den Bohrer und sein verglühtes Gestänge beiseite und stülpt die „Mani-Haube“ über die Rinne – Mani wie Manipulator, einer der feuerfesten Helfer am Stichloch, der Staub und Hitze unter dem Deckel halten soll. Sofort beruhigt sich das Getöse, das Eisen fließt jetzt unterirdisch zu den „Torpedos“ – so nennen sie hier die zigarrenförmigen Pfannenwagen, die das Roheisen ins Stahlwerk transportieren.
Solange das Eisen fließt – das können jetzt zwei Stunden sein – haben die Schmelzer am Hochofen 2 einen ruhigen Job. Sie kennen sich gut, „sind fast wie eine Familie, manchmal anstrengend, aber immer bereit, dem anderen zu helfen“, sagt Bolz. Ab und zu muss einer von ihnen an die Rinne, um eine Probe aus dem Feuerfluss zu ziehen, die im Labor analysiert wird – damit die Kollegen im Stahlwerk wissen, was auf sie zukommt. Schon kleine Schwankungen beim Kohlenstoffgehalt des Eisens etwa – 4,3 oder 4,5 Prozent – haben Einfluss auf die Weiterverarbeitung. Denn am Ende soll immer ein Produkt von gleichbleibender Qualität stehen: Feinblech, das zu Autos oder Kühlschränken gepresst werden kann.
Wie lange es ihren Ofen noch geben wird, wissen die Männer nicht. Die Stahlindustrie soll klimaneutral werden. Roheisen wird künftig nicht mehr aus dem Hochofen kommen, sondern CO2-frei mit Wasserstoff hergestellt werden. „Man muss da positiv rangehen“, sagt Bolz. „Stahl wird man immer brauchen.“ Also auch Menschen wie ihn, die das Metall erschmelzen. Aber wenn sie eines Tages das letzte Eisen aus ihrem Ofen holen – „die Sau ablassen“, wie die Hochöfner sagen – dann werden alle dabei sein. Und sicherlich ein bisschen wehmütig werden.