Der Bundesgerichtshof (BGH) springt klagenden Dieselkäufern zur Seite und meldet sich erstmals mit einer rechtlichen Einschätzung zu Wort. Demnach ist die illegale Abgastechnik in den Autos als Sachmangel einzustufen, wie das Gericht am Freitag in Karlsruhe mitteilte. Es kündigte dazu „in Kürze“ die Veröffentlichung eines umfangreichen Hinweisbeschlusses vom 8. Januar an. Das Dokument werde voraussichtlich erst Anfang kommender Woche online gestellt. (Az. VIII ZR 225/17)
Die obersten Zivilrichter stellen außerdem klar, dass Händler betroffenen Neuwagenkäufern die Lieferung eines anderen Autos ohne das Problem nicht einfach verwehren können, nur weil das Modell nicht mehr hergestellt wird. Der Austausch könne höchstens daran scheitern, dass im einzelnen Fall die Kosten unverhältnismäßig hoch seien. Der 19-seitige Hinweisbeschluss gibt die vorläufige Einschätzung des Senats wieder und ist noch kein Urteil. Dennoch gehe davon für die unteren Instanzen eine Signalwirkung aus, sagte BGH-Sprecherin Dietlind Weinland: „Es ist zu erwarten, dass sie sich an dieser vorläufigen Rechtsauffassung orientieren werden.“ So sieht es auch der Bremer Rechtsanwalt André Ehlers, der mit seiner Kanzlei 250 VW-Kunden vertritt: „Es werden wohl nicht nur diejenigen profitieren, die – wie der Kläger im BGH-Verfahren – Gewährleistungsansprüche gegen Ihren Autohändler geltend gemacht haben." Laut Ehlers werden auch die Verfahren positiv beeinflusst, in denen Kunden von VW Schadensersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung verlangen. „Es dürften keine ernsthaften Zweifel daran bestehen, dass man beim VW-Konzern gewusst hat, dass der Verbraucher geschädigt wird, wenn ihm ein mangelhaftes Fahrzeug verkauft wird, dem die Betriebsuntersagung droht“, ergänzte Ehlers.
VW teilte mit, der BGH-Hinweis lasse noch keine Rückschlüsse auf den Erfolg solcher Kundenklagen zu. Erst recht ließen sich daraus keine Folgerungen für den Erfolg von Klagen gegen die Volkswagen AG ziehen, sagte ein Konzern-Sprecher. Tatsächlich äußerten sich die Karlsruher Richter nur zu Ansprüchen, die Dieselkäufern gegen den Autohändler entstehen können.
Dass der BGH von sich aus rechtlichen Hinweise abgibt, hat Seltenheitswert. Anlass war die kurzfristige Absage einer Verhandlung für den 27. Februar. Da sollte eigentlich über die erste Dieselskandal-Klage verhandelt werden, die es bis in die letzte Instanz geschafft hat. Aber der klagende Käufer eines VW Tiguan habe seine Revision zurückgenommen, weil sich die Parteien verglichen hätten. Das bedeutet, dass der Kläger Geld bekommen hat. Verbraucheranwälte werfen den Autokonzernen schon länger vor, gezielt Vergleiche zu schließen, um ein höchstrichterliches Urteil zu vermeiden. Mit dem Rückzieher wird das vorinstanzliche Urteil des Bamberger Oberlandesgerichts rechtskräftig. Dort war der Käufer unterlegen. Er wollte erreichen, dass sein Autohändler einen kurz vor Bekanntwerden des Abgasskandals 2015 neu gekauften VW Tiguan zurücknimmt und ihm dafür ein anderes Auto ohne Problem gibt. Das wurde von den Gerichten mit der Begründung abgewiesen, dass der Fahrzeugtyp so nicht mehr hergestellt wird. Es sei deshalb gar nicht möglich, ein gleichartiges Auto zu liefern.
Diese Einschätzung hält der BGH für fehlerhaft. Ein „mehr oder weniger großer Änderungsumfang“ dürfte „für die Interessenlage des Verkäufers in der Regel ohne Belang sein“, hieß es. Dass ein Sachmangel vorliegen dürfte, begründen die Richter mit der Gefahr, dass die Behörden dem Käufer die Betriebszulassung entziehen. Damit fehle es „an der Eignung der Sache für die gewöhnliche Verwendung“ - nämlich die Nutzung des Autos im Straßenverkehr.
Der ADAC begrüßte die Klarstellungen. „Damit ist in diesem Punkt endlich Rechtssicherheit geschaffen“, teilte der Autofahrerclub mit. Der Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Klaus Müller, sagte, nun sei klar, dass nach höchstrichterlicher Auffassung die Verwendung einer Abschalteinrichtung der Abgasreinigung nicht hinzunehmen sei. Die Äußerungen hätten auch Signalwirkung für die Musterfeststellungsklage von vzbv und ADAC gegen VW. Inzwischen haben sich mehr als 400 000 Autobesitzer angeschlossen. Außerdem sind laut VW bundesweit etwa 50 000 Kundenklagen anhängig. 14 000 Urteile oder Beschlüsse seien ergangen, mehrheitlich im Sinne des Konzerns.
Die Bremer SPD-Bundestagsabgeordnete Sarah Ryglewski sagte zur BGH-Einschätzung: „Ich hoffe, dass VW den Schuss jetzt gehört hat und die letzte Chance nutzt, um seine Kunden zu entschädigen bevor VW gerichtlich dazu gezwungen wird.“ Grünen-Fraktionsvize Oliver Krischer äußerte sich. „Die Hersteller können sich jetzt nicht mehr auf den Standpunkt stellen, dass Diesel-Halter bisher kaum Einschränkungen erfahren haben.“ Eine Entschädigung sei überfällig. Und der FDP-Verkehrspolitiker Oliver Luksic sprach von einem Erfolg für den Verbraucherschutz: „Die nun zu erwartende Schadenkompensation bringt den Kunden ein Stück Gerechtigkeit zurück.“
Wegen der Folgen des Dieselskandals wuchs VW langsamer, wie die aktuellen Geschäftszahlen zeigen. Der Umsatz legte im Vergleich zum Vorjahr um 6,3 Milliarden auf 235,8 Milliarden Euro zu. Das Ergebnis vor Steuern stieg um knapp zwei auf 15,6 Milliarden Euro. VW musste im Gesamtjahr vor allem wegen der Dieselkrise wie schon 2017 Sonderkosten von 3,2 Milliarden Euro verbuchen.