Wie ein gespitzter Bleistift ragt der Fallturm am Hochschulring in den Himmel. Seit mehr als 30 Jahren ist er das weithin sichtbare Zeichen für Bremens führende Rolle in der Weltraumforschung. Jetzt hat der fast 150 Meter hohe Turm einen kleinen Bruder bekommen. Der ist zwar nicht höher als das Hallendach und deshalb von außen nicht zu sehen, hat aber einen entscheidenden Vorteil: Statt nur dreimal am Tag kann in der Röhre bis zu 300-mal ein paar Sekunden lang die Schwerelosigkeit des Weltalls simuliert werden.
Gravi-Tower Bremen (GTB) Pro heißt das neue Weltraumlabor. "Das ,Pro' steht für Prototyp", erklärt Andreas Gierse, Projektleiter am Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) der Uni Bremen. Und entsprechend lange haben sie an der Hightech-Röhre herumgeschraubt: Vor zehn Jahren bereits schrieb Gierse seine Doktorarbeit über ein zentrales Bauteil des künftigen GTB; es folgten vier Jahre Planung und Entwicklung und weitere vier Jahre für den Bau. In dieser Woche ging die 1,85 Millionen Euro teure Präzisionsschleuder in Betrieb.
Der 16 Meter hohe Mini-Fallturm steht in der großzügig verglasten Integrationshalle des ZARM und lehnt sich direkt an seinen großen Bruder an. Dessen 120 Meter lange Fallröhre ist nach wie vor das Maß aller Dinge in der Mikrogravitationsforschung: Über neun Sekunden lang Schwerelosigkeit lassen sich dort erzeugen, wenn das Experiment per Katapult in die Höhe geschossen wird, dann im freien Fall herabstürzt und im Styropor-Bällebad landet. Der Nachteil ist: Die Röhre muss vor jedem Schuss leergesaugt werden, um ein Vakuum zu erzeugen. Mehr als drei Versuche pro Tag sind deshalb nicht möglich.
Der GTB kommt ohne luftleeren Raum aus. Deshalb entfallen die langwierigen Startvorbereitungen. "Von Hand gesteuert kommen wir auf 100 Flüge am Tag, im Automatikbetrieb sind bis zu 300 Wiederholungen in 24 Stunden möglich", rechnet Projektleiter Gierse vor. Selbst wenn der Letzte abends im ZARM das Licht ausschaltet, kann im Gravi-Tower weiter das Weltall simuliert werden.
Möglich macht dies das ausgeklügelte Zusammenspiel von präziser Feinmechanik und roher Gewalt. Gierse öffnet unten am Turm eine Klappe. Dahinter kommt ein schmales Regal zum Vorschein, das vollgepackt ist mit Elektronik. "Das ist unser Experiment", erklärt der Ingenieur. In der ersten Betriebswoche des GTB geht es um die Untersuchung von Einschlägen auf Asteroiden-Oberflächen zur Vorbereitung künftiger Landemissionen. Viel zu sehen ist davon nicht – statt Weltraumstaub enthält das Regal rein äußerlich nur jede Menge Kabel, Stecker und Elektronikboxen.
Wie eine Fahrt im "Power-Tower"
Der Schuss ins simulierte Weltall funktioniert im Prinzip so wie eine Fahrt im "Power-Tower" auf dem Freimarkt: schnell hoch und im freien Fall wieder runter. Was den Fahrgästen den Magen umdreht, sorgt im GTB für einen kurzen Moment kosmischer Erkenntnis. Das Experimentier-Regal steht dazu auf einem Schlitten, der sich an Schienen in der Röhre auf und ab bewegen kann. Damit das mit der nötigen Geschwindigkeit passiert, kommt hier die rohe Gewalt ins Spiel: Eine Hydraulik, die allein halb so hoch ist wie der gesamte Turm, sorgt mit 4000 PS dafür, dass der Schlitten mitsamt seinem Versuchsaufbau wie ein Expresslift in die Höhe schießt – "mit der fünffachen Erdbeschleunigung", sagt Gierse. Außer durchtrainierten Jetpiloten würde kaum ein Mensch diese Belastung aushalten. "Da wirken also extreme Kräfte, und trotzdem darf es keine Schwingungen oder Störungen geben, die das Experiment beeinträchtigen", erklärt der Ingenieur.
Die Beschleunigungsphase dauert nicht einmal eine Sekunde. Dann löst sich das Regal mit dem Versuchsaufbau von seiner Verankerung auf dem Schlitten und schwebt für zweieinhalb Sekunden frei in der Luft – innerhalb des Schlittens, der präzise mit dem fliegenden Regal mithalten muss und dabei wie eine Autokarosserie den Luftwiderstand abhält. "So kommen wir beim GTB ohne Vakuum aus", erklärt Gierse. Kurz vor der Landung muss das Regal dann wieder sauber in seine Verankerung einrasten, damit Dämpfer für eine weiche Landung sorgen.
Hört sich kompliziert an? Ist es auch. Beim ZARM sind sie deshalb stolz, dass ihr "Baby" nach acht Jahren Entwicklungs- und Bauzeit endlich fliegt. Fertig ist der GTB deshalb noch lange nicht: Mit ein paar Tricks wollen sie nicht nur Flüge in völliger Schwerelosigkeit simulieren, sondern auch die Verhältnisse auf Mond und Mars, mit reduzierter Anziehungskraft. Und künstliche Intelligenz soll dafür sorgen, dass die Experimente noch besser gesteuert und die riesigen Datenmengen ausgewertet werden können.