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Immer mehr Lebensmittel landen im Müll Bremer Wissenschaftler kritisieren Einzelhandel

Bremen. Die Menschen in Industrieländern gehen immer sorgloser mit Lebensmitteln um. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Welternährungsorganisation. Bremer Wissenschaftler sehen allerdings nicht nur die Endverbraucher in der Pflicht.
17.05.2011, 05:00 Uhr
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Von Sebastian Manz

Bremen. Die Menschen in Industrieländern gehen immer sorgloser mit Lebensmitteln um. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Welternährungsorganisation, die gestern in Düsseldorf vorgestellt worden ist. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis und angesichts steigender Nahrungsmittelpreise fordert Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) nun von den Konsumenten mehr Wertschätzung fürs Essen. Bremer Wissenschaftler und Unternehmer sehen allerdings nicht nur die Endverbraucher in der Pflicht.

Jeden Morgen machen sich in Bremen fünf Kleintransporter auf ihren Weg, der sie kreuz und quer durch die Hansestadt führt. Die Fahrzeuge sind im Auftrag der Bremer Tafel unterwegs. Die gemeinnützige Einrichtung hat es sich zur Aufgabe gemacht, bedürftige Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen. Supermärkte, Gastronomen oder Großhändler stellen dem Verein kostenlos Ware zur Verfügung. 25 bis 40 Stationen fährt jeder Lieferwagen auf seiner Tour an. Sechs bis acht Tonnen Lebensmittel sammeln die Helfer Tag für Tag ein. Die Spender überlassen der Bremer Tafel in vielen Fällen jene Chargen, die sie selbst nicht mehr verkaufen könnten - und wohl oder übel wegwerfen müssten.

Im Lager des Vereins stapeln sich Kisten voller Brot, Obst und Gemüse. Gabriele Löhr, freiwillige Helferin bei der Tafel, zupft gerade zwei welke Blätter von einem Salatkopf. "Jetzt sieht er wieder aus wie neu", sagt sie und greift sich einen Weißkohl, um ihn der gleichen Behandlung zu unterziehen. "Wir haben ein gutes Gespür entwickelt, welche Sachen noch genießbar sind", sagt sie. Die Menschen jenseits der Essensausgabe scheinen das genauso zu sehen. In Windeseile sind die Vorräte an frischen Lebensmitteln verteilt.

Form und Aussehen entscheiden

Die Bremer Tafel profitiert von einer Verbraucher-Mentalität, die sich laut einer Studie der Welternährungsorganisation (FAO) in den vergangenen Jahren deutlich verstärkt hat. Nach Schätzungen der Organisation werden allein in den Industriestaaten mehr als 220 Millionen Tonnen Essen pro Jahr weggeworfen. In Deutschland landen demnach jährlich mindestens 170000 Lastwagen-Ladungen mit Lebensmitteln auf dem Müll - darunter viele verpackte Nahrungsmittel, die noch ungeöffnet sind. Viele Lebensmittel würden weggeworfen, weil sie in Form und Aussehen nicht der erwarteten Norm entsprächen, teilten die Autoren der Studie gestern in Düsseldorf mit. Dort wurde die Erhebung im Rahmen des Kongresses "Save Food" vorgestellt.

Unter den Teilnehmenden war auch die Ökonomin Verena Brenner, die an der Jacobs University Bremen die Ursachen von Lebensmittelverschwendung erforscht. Verbraucher seien ein Teil des Problems, etwa durch ihre gestiegenen Ansprüche an Optik und Haltbarkeit der Produkte. "Vielen ist aber auch das Wissen älterer Generationen darüber verloren gegangen, wie man Lebensmittel richtig einkauft und verarbeitet ", sagt die Wissenschaftlerin.

Doch die Schuld an der horrenden Wegwerfquote bei Nahrungsmitteln liege nicht ausschließlich bei Verbrauchern. Auch der Einzelhandel habe erheblichen Einfluss auf das Verhalten von Konsumenten und Produzenten. Das geschehe etwa über das Mindesthaltbarkeitsdatum. Der Handel bestimme diese Orientierungshilfe nach eigenem Ermessen und nicht immer auf Basis objektiver Kriterien. "Es gibt Produkte, deren Haltbarkeit über Nacht um ein Drittel heruntergestuft wurde", sagt Verena Brenner. Verbraucher vertrauten den Vorgaben meist vorbehaltlos und entsorgten abgelaufene Lebensmittel oft, ohne die Qualität zu prüfen. "Wir sollten wieder lernen, unseren Sinnen zu vertrauen", sagt Brenner. So könne etwa ein Joghurt auch Wochen nach seinem offiziellen Ablauftermin noch gesund und lecker sein.

Der Einzelhandel setze jedoch nicht nur sich selbst und seinen Kunden, sondern auch seinen Lieferanten Standards, die nichts mit der tatsächlichen Qualität der Lebensmittel zu tun hätten, erläutert die Forscherin. So würden etwa Lebensmittel, die gewissen optischen Ansprüchen nicht genügten, zurückgewiesen. Obwohl es sich um einwandfreie Lebensmittel handelt, wandern diese Produkte dann meist auf den Müll. "Hier stellt sich die Frage, wer wem folgt: der Handel den Ansprüchen der Konsumenten oder umgekehrt", sagt Brenner.

Einen satten Anteil an der hohen Wegwerfquote bei Lebensmitteln hat auch die Gastronomie. In diesem Bereich ist vor allem schwierige Planbarkeit beim Einkauf ausschlaggebend. "Außerdem müssen Gastronomen sehr hohe Hygienestandards erfüllen, die sie dazu zwingen, viel Ware wegzuwerfen", sagt Verena Brenner.

Aufkleber zur Aufklärung

Der Düsseldorfer Kongress ist Teil der Verpackungsmesse "Interpack". Entsprechend äußerte auch die Verpackungsbranche Lösungsvorschläge. Mit einem neuen Aufkleber will sie dafür sorgen, dass Lebensmittel seltener unnötig weggeworfen werden. So groß wie eine Briefmarke, soll das Etikett mit eingebautem Thermometer anzeigen, ob das Produkt ausreichend und dauerhaft gekühlt wurde. Bis Ende des Jahres rechnet der Leiter des Verpackungsnetzwerks von BASF, Axel Grimm, mit der Einführung des Kälte-Indikators in Deutschland. "Man sieht dann klar, ob die Kühlkette unterbrochen wurde", sagte Grimm. Ein Ersatz für das Mindesthaltbarkeitsdatum sei der Kleber zwar nicht, aber eine zusätzliche Information für den Kunden.

Vielleicht müssen sich die Supermarktkunden in Deutschland also demnächst nicht nur an Wurstaufschnitt mit kleinen Aufklebern gewöhnen, sondern auch an Gemüse, dessen Plastikfolie grün, gelb oder rot ist. Je nach Farbe soll die Verpackung dem Verbraucher dann verraten, wie frisch Kopfsalat, Tomate oder Paprika noch sind.

Der Bremer Unternehmer Christian Helms hält die Impulse aus Düsseldorf für wichtig, will aber nicht allein den Verbrauchern die Schuld an der Misere geben. Helms ist Generalsekretär der 2003 gegründeten Cool Chain Association. Die internationale Organisation mit Sitz in Bremen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kühlung von Lebensmitteln zu verbessern, um so unnötige Verluste zu vermeiden. "Bessere Verpackungen sind nur ein Teil der Lösung", sagt Christian Helms, "viel wichtiger ist es aber, dass die Kühlkette bei Lebensmitteln nicht unterbrochen wird - hier gibt es Nachholbedarf bei Produzenten und Handel."

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