Was Insider schon lange vermuten, scheint sich nun zu bestätigen. Das Tricksen und Betrügen bei der Abgasreinigung war eine abgekartete Sache der Hersteller. Seit Jahren haben sich die deutschen Autobauer offenbar abgesprochen. Es soll geheime Arbeitskreise geben, in denen sich die drei großen Konzerne BMW, Daimler und Volkswagen über den Themen Technik, Kosten und Zulieferer kooperieren, berichtet das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.
Die Autobauer sollen auch Vereinbarungen über die Abgasreinigung bei Dieselautos getroffen haben. Dabei soll es unter anderem auch um die Größe der Adblue-Tanks in den Fahrzeugen gegangen sein. Adblue ist ein Harnstoff, der in der Abgasreinigung eingesetzt wird, um das giftige Stickoxid (NOX) zu neutralisieren.
Weit über den Grenzwerten
Fest steht: Bei zahlreichen Modellen verschiedener deutscher Hersteller sind die Adblue-Tanks offenbar aus Kostengründen zu klein dimensioniert. Um den Harnstoff nur sparsam einsetzen zu müssen, haben mehrere Autobauer mit sogenannten Thermofenstern gearbeitet.
Das bedeutet: Fällt die Außentemperatur unter einen bestimmten Wert, werden die Katalysatoren abgeschaltet. Dadurch blasen die Autos NOX in Mengen raus, die weit über den Grenzwerten liegen. Die Adblue-Tanks stehen auch im Fokus der EU-Wettbewerbshüter. Die Brüsseler Kartellwächter stützen sich dabei unter anderem auf ein Dokument der VW-Tochter Audi von April 2010.
In der Präsentation zur „Clean Diesel Strategie“ soll unter anderem von einem „Commitment der deutschen Automobilhersteller auf Vorstandsebene“ die Rede sein, berichten mehrere Medien übereinstimmend. Das Dokument befand sich in Unterlagen, die während der Razzien bei VW beschlagnahmt wurden.
Daimler und der Volkswagen-Konzern sollen laut Spiegel beim Bundeskartellamt eine „Art Selbstanzeige“ hinterlegt haben, in der die Existenz des Arbeitskreises eingeräumt wird, in dem mehr als 200 Mitarbeiter verschiedener Unternehmen abgestimmt haben. Bei den Selbstanzeigen kommt es nun darauf an, wer diese schneller und umfassender abgegeben hat.
VW wollte sich nicht äußern
Sollte der Kronzeugenantrag vollständig sein, können laut EU-Regeln dem schnellsten das Bußgeld in dreistelliger Millionenhöhe und mehr zu 100 Prozent erlassen werden. Dem zweiten Kronzeugen können bis zu 50 Prozent erlassen werden und dem dritten bis zu 25 Prozent.
Als die Nachricht Freitagmittag bekannt wurde, stürzten an der Börse in Frankfurt die Aktien der Autobauer dermaßen in den Keller, dass sie für kurze Zeit aus dem Handel genommen wurden. Zu den Vorwürfen wollte sich VW nicht äußern.
Bei BMW hieß es allerdings, man arbeite „fallweise“ mit anderen Herstellern zusammen, „etwa bei der Entwicklung und beim Einkauf von Komponenten und Technologien, die nicht wettbewerbsdiffenzierend sind“. Hier handelt es sich um eine Grauzone. Da die deutschen Autobauer bei vielen Kernkomponenten für ihre Pkw auf gleiche Zulieferer setzen, sind alle Beteiligten bestrebt, die Bauteile zu vereinheitlichen, um Kosten zu drücken.
Kartellamt verweist auf Durchsuchungen
Experten im Bundeskartellamt sind aber der Ansicht, dass die Grenze des Zulässigen überschritten wurde. Die Bonner Behörde teilte zwar mit, dass man zu laufenden Verfahren keine Auskunft gebe. Ein Sprecher verwies aber darauf, dass es am 23. Juni 2016 eine „Durchsuchungsmaßnahme“ bei sechs Unternehmen gegeben habe.
50 Mitarbeiter des Amtes waren dabei im Einsatz, unterstützt von der Polizei. Solche Durchsuchungen setzen einen Anfangsverdacht gegen einen Kartellrechtsverstoß voraus. Nach Angaben des Sprechers ging es dabei konkret um Absprachen beim „Einkauf von Stahl durch die Automobil- und Automobilzulieferindustrie“, um womöglich die Preise zu drücken.
Branchenkenner vermuten, dass dies ein Thema der Vereinbarungen in den Arbeitskreisen gewesen sein könnte. Womöglich könnte dahinter einer der größten Kartellfälle in der deutschen Wirtschaftsgesichte stecken. Während das Kartellamt ermittelt, erhöht die EU-Kommission den Druck auf Mitgliedstaaten und Hersteller deutlich.
Nationale Behörden in der Kritik
EU-Industriekommissarin Elzbieta Bienkowska fordert in einem Brief nun, manipulierte Autos aus dem Verkehr zu ziehen. Sollten Fahrzeuge bis Ende des Jahres nicht umgerüstet sein, müssten sie von 2018 an stillgelegt werden. Aktuell beträfe das europaweit noch Millionen Fahrzeuge.
Zugleich kritisiert die Kommission nationale Behörden. Es sei bestürzend, dass die neuen Verdachtsfälle nicht von staatlichen Stellen, sondern von Staatsanwaltschaften entdeckt wurden. Im Abgasskandal sei eine härtere Gangart nötig. In Deutschland stehen Verkehrsministerium und Kraftfahrtbundesamt in der Kritik.
So wurden zwar massive Übertretungen der NOX-Werte im Normalbetrieb bei vielen Autos festgestellt, die betroffenen Firmen mussten aber nur unverbindliche Nachrüstaktionen ankündigen. Dass vor allem Audi stärker in Bedrängnis kommt, lässt sich auch daran ablesen, dass das Unternehmen ankündigte, bis zu 850.000 Fahrzeuge nachrüsten lassen.
Über ein Softwareupdate soll das „Emissionsverhalten“ von Autos mit Sechs- und Achtzylinder-Dieselmotoren mit den Abgasnormen Euro-5 und Euro-6 verbessert werden, wie Audi mitteilte. Das Update sei für die Kunden kostenlos und in Europa sowie anderen Märkten außerhalb der USA und Kanada verfügbar.
Absprachen über 14 Jahre
Der Service gelte auch für Modelle der Marken Porsche und VW, die mit baugleichen Motoren ausgerüstet sind. Alle Motor-Getriebevarianten mit Dieselantrieb würden vom Unternehmen weiterhin auf Unregelmäßigkeiten geprüft, wobei Audi mit den Behörden eng zusammenarbeite.
Anfang Juni war Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) mit dem Vorwurf „unzulässiger Abschalteinrichtungen“ gegen Audi an die Öffentlichkeit gegangen. Beim Lkw-Kartell fungierte VW-Tochter MAN als Kronzeuge. Über 14 Jahre hatten die großen Lkw-Hersteller ihre Preise abgesprochen.
Die EU-Kommission verhängte Strafen von insgesamt knapp drei Milliarden Euro. MAN blieb als Kronzeuge straffrei. Doch Spediteure fordern nun Schadenersatz von den Herstellern. Auch mehrere Bremer Spediteure haben sich einer Sammelklage angeschlossen. Sowas kann nun allen deutschen Autobauern drohen.