In den Streit der Ökonomen um den richtigen Euro-Kurs haben sich nun auch die Wirtschaftsweisen eingeschaltet. In einem Sondergutachten lobt der Sachverständigenrat die EU-Gipfelbeschlüsse – und geht damit auf Konfrontationskurs zu den Kritikern um Hans-Werner Sinn. Auch rund 130 namhafte Finanzexperten um die Ex-Wirtschaftsweise Beatrice Weder di Mauro verteidigen die Gipfelbeschlüsse.
Bremen. Es kommt nicht alle Tage vor, dass sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung (SVR) mit einem Sondergutachten zu Wort meldet. Üblicherweise legt der SVR seine Empfehlungen für wirtschaftliches Handeln an die Regierung im Herbst vor. Dass sich die Ökonomen Wolfgang Franz, Peter Bofinger, Christoph Schmidt, Lars Feld und Claudia Buch nun vor der Zeit mit einem Sondergutachten ("Nach dem EU-Gipfel: Zeit für langfristige Lösungen nutzen") in die aktuelle Debatte einmischen, unterstreicht die Dramatik der Lage.
"Die europäische Währungsunion befindet sich in einer systemischen Krise", schreiben die fünf Wirtschaftsweisen, "die den Fortbestand der gemeinsamen Währung und die ökonomische Stabilität Deutschlands gleichermaßen gefährdet." Die Krise bleibe auch nach dem Gipfel am 28. und 29. Juni ungelöst. "Erneute Zuspitzungen drohen, wenn der bestehende Teufelskreis aus Bankenkrise, Staatsschuldenkrise und makroökonomischer Krise nicht durchbrochen wird." Vor allem Deutschland würde unter einem unkontrollierten Zusammenbruch der Währungsunion leiden, schreiben die Weisen. Deutschlands Forderungen gegenüber dem Euro-Raum belaufen sich auf rund 2800 Milliarden Euro.
Als konkretes Instrument schlagen die fünf Wirtschaftsprofessoren einen zeitlich befristeten und an Auflagen gebundenen Schuldentilgungspakt im Euro-Raum vor. In ihn sollen alle Schulden fließen, die oberhalb der Marke von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Im Gegenzug verpflichten sich die Staaten zu jährlichen Tilgungszahlungen. Außerdem empfehlen die Ökonomen eine grenzüberschreitende Bankenaufsicht, um marode Banken abwickeln zu können. Damit stützten sie die EU-Beschlüsse, auf absehbare Zeit eine Bankenunion anzustreben.
In eine ähnliche Richtung stößt auch ein Positionspapier, das rund 130 Finanzwissenschaftler unterzeichnet haben. Prominenteste Unterstützer sind die Ex-Wirtschaftsweise Beatrice Weder di Mauro und der Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, Dennis Snower. "Die Krise im Euroraum hat fatale Konstruktionsfehler der Währungsunion offenbart", heißt es in dem Papier, das dieser Zeitung vorliegt. "Ein wesentlicher Teil des Problems liegt in der Verknüpfung zwischen der Verschuldung des Finanzsektors und des Staates auf nationaler Ebene (...). Dadurch wird jede Bankenkrise zu einer Staatsschuldenkrise und umgekehrt – das Misstrauen schaukelt sich gegenseitig immer weiter hoch". Nur wenn es gelinge, heißt es weiter, Banken unabhängig von der Finanzlage des jeweiligen Staates neues Geld zu verschaffen, habe die Schuldensituation keine direkten Auswirkungen auf die Kreditversorgung der Wirtschaft. Die Ökonomen fordern die Politik deshalb auf, einheitliche europäische Strukturen in diesem Sinne einzurichten. "Ein gemeinsamer Währungsraum mit freien Kapitalströmen kann ohne eine europäische Bankenunion nicht sinnvoll funktionieren."
Das sehen auch die Wirtschaftsweisen so. "Die Diskussion darüber wird aber noch mindestens dieses Jahr dauern", sagte Wolfgang Franz, Chef des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), dieser Zeitung. "Es müssen viele Fragen geklärt werden. Etwa: Wo soll die Aufsicht angesiedelt werden, bei der EZB oder in einer eigenen Behörde? Welche Banken sollen eingeschlossen werden? Welche Befugnisse soll eine solche Aufsichtsbehörde haben? Da ist ein Schnellschuss nicht anzuraten."
Der Chef der Wirtschaftsweisen kritisierte auch den Aufruf der 170 Ökonomen rund um Hans-Werner Sinn und Walter Krämer. "Es ist vollkommen normal, das Wissenschaftler unterschiedlicher Auffassung sind", sagte er. "Ich frage mich allerdings, warum Sinn und Krämer Beschlüsse kritisieren, die so gar nicht gefasst wurden, vor allem nicht in Bezug auf die Bankenunion. Und weiter würde mich interessieren, welche Alternativen die Kollegen aufzuweisen haben. Davon steht in dem Aufruf nichts. Da wird alles über einem Kamm geschoren, das hilft nicht weiter."
Um die Kenntnis über die europäischen Zusammenhänge zu fördern, müssten alle ihren Beitrag leisten. "Wir müssen darüber aufklären, welche Reformerfolge in den Euro-Ländern erreicht wurden. Spanien, Portugal und Irland haben große Reformfortschritte erzielt. Diese Aufklärungsarbeit muss geleistet werden, wenn man den Scharfmachern und Populisten den Wind aus den Segeln nehmen will. Da sehe ich vor allem die Politik und die Medien in der Pflicht", sagte er.
In ihrem Sondergutachten betonen die Wirtschaftsweisen ausdrücklich die Fortschritte der Krisenländer. Alle befänden sich auf dem richtigen Weg. Ganz im Gegensatz zu den USA, Großbritannien oder Japan, wo bislang kaum nennenswerte Reformen gemacht worden seien. "Trotzdem ist es diesen Ländern möglich, sich zu historisch niedrigen Zinsen zu refinanzieren", schreiben die Weisen. "Demgegenüber haben die Märkte die bisherigen Sparprogramme der Problemländer in keiner Weise honoriert."
Zahlen belegen das. Während die Neuverschuldung der Euro-Zone 2012 geschätzt bei 3,2 Prozent liegen wird, beträgt sie in den USA 8,5 Prozent, in Großbritannien acht Prozent und in Japan zehn Prozent. Der Schuldenstand dieser Länder liegt noch weit über dem der Euro-Länder.