Über zweieinhalb Jahre hat sich dieser Prozess vor dem Bremer Landgericht hingezogen. Schließlich gab es am Montagmittag zur Urteilsverkündung nochmals 15 Minuten Verspätung. Der Zuschauerandrang war so groß, dass nicht Platz für alle im Verhandlungssaal war. Unter ihnen waren Verwandte der Angeklagten sowie Beschäftigte des Entsorgungsunternehmens Hirsch. Hier waren zwei der drei Angeklagten lange als Geschäftsführer tätig. Gegen 13.45 Uhr begann die Vorsitzende Richterin der Zweiten Strafkammer, Monika Schaefer, mit der Urteilsverkündung: Einer der beiden früheren Hirsch-Geschäftsführer soll für sieben Jahre ins Gefängnis. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Mann von 2007 bis 2010 beim Handel mit Metallschrott aktiv beteiligt war, um knapp 19 Millionen Euro Umsatzsteuer zu hinterziehen.
Ein weiterer Angeklagter, der aus Berlin ist, wurde zu zwei Jahren und elf Monaten Haft verurteilt. Seine Strafe fiel geringer aus, weil er umfängliche Angaben zu den Vorgängen machte. Demnach baute er in der Hauptstadt ein Geflecht von Scheinfirmen auf, die die Hinterziehung der Umsatzsteuer ermöglichten. Das Geld wurde anschließend unter den Beteiligten aufgeteilt. Laut Gericht warb der Mann in Berlin für die Scheinfirmen zum Teil Alkoholkranke und andere Drogenabhängige mit Geldproblemen als vermeintliche Geschäftsführer an. Die suchte er an den üblichen Treffpunkten dieser Klientel an Berliner U-Bahn-Stationen. Zum Teil wurde ihnen Geld versprochen, ohne dass sie genau wussten, worum es eigentlich ging. Die Richterin nannte Beispiele, wie dafür eine Firma in Großbritannien mit britischer Limited-Rechtsform und Büro in Berlin gegründet wurde. Eine der ersten Scheinfirmen erhielt den Namen „Fridolin Systems“ – benannt nach dem Hund des Schein-Geschäftsführers.
Das Geschäft lief so: Beim europaweiten Handel bekam Hirsch in den Jahren 2007 bis 2010 ganze Lkw-Ladungen unter anderem mit Edelstahlschrott und Kupferkathoden. Die Abwicklung der Geschäfte und auch die Bezahlung, die in bar oder im Gutschriftverfahren erfolgte, lief dabei über diverse Scheinfirmen. Die Schein-Geschäftsführer, die in diesem Geschäftsmodell als „Schreiber“ bezeichnet werden, führten die Umsatzsteuer nicht ans Finanzamt ab. Das Geld wurde zwischen den ausländischen Lieferfirmen, Hirsch und den Schreibern aufgeteilt. Letztere erhielten oft die kleinste Summe von allen. Die Richterin nannte in der Urteilsbegründung ein Beispiel, wie ein Hintermann und ein Schreiber bei Hirsch in Bremen auftauchten, einen Scheck über einen sechsstelligen Bereich in Empfang nahmen und sich diesen bei der Sparkasse Am Brill auszahlen ließen. Mit dem Bargeld fuhren sie hinterher wieder zu Hirsch.
Einer dieser Schreiber war so alkoholkrank, dass er am Tag seines Bremen-Aufenthalts von der Polizei aufgegriffen und ins Klinikum Ost gebracht wurde. Dort wurde er fünf Tage stationär behandelt. Unter den knapp 40 Zeugen, die in diesem Prozess vernommen wurden, befanden sich eine ganze Reihe dieser „Schreiber“. Die meisten von ihnen kamen für den Prozess aus Berlin und befinden sich nicht im besten gesundheitlichen Zustand. Dies ist laut Landgerichtssprecher Jan Stegemann einer der Gründe, warum sich der Prozess so lange hinzog.
Der dritte Angeklagte in diesem Prozess, ebenfalls ein ehemaliger Geschäftsführer des Entsorgungsunternehmens Hirsch, wurde freigesprochen. Das Gericht konnte ihm nicht nachweisen, inwiefern er von den Geschäften wusste – „leider“, wie die Vorsitzende Richterin Monika Schaefer in der Urteilsbegründung sagte. In einem solchen Fall heißt es dann "im Zweifel für den Angeklagten". Sein Anwalt sowie die Anwältin des Berliners Angeklagten zeigten sich zufrieden mit dem Urteil. Die Anwälte des verurteilten Ex-Hirsch-Geschäftsführers erklärten noch im Landgericht, in Revision gehen zu wollen.
Der Ansicht, dass ihr Mandant nichts von den Geschäften wusste, konnten die Mitglieder der Strafkammer nicht folgen. Sie sahen es als erwiesen an, dass er von diesem System wusste, und sprachen beiden Verurteilten eine „kriminellen Energie“ zu – um zum Beispiel dem Finanzamt tadellos erscheinende Papiere vorlegen zu können. Dennoch hegte das Finanzamt so großen Verdacht, dass die Telefone des verurteilten Ex-Geschäftsführers abgehört wurden. Teile davon wurden vor Gericht vorgespielt.
Noch während der Steuerrazzia durch den Zoll rief der Ex-Geschäftsführer von der Toilette der Firma aus per Handy einen der Hintermänner an und sagte: „Hier ist die Kacke am Dampfen." Er gab Anweisungen, was er an Papieren brauche, und wer zu informieren sei. Er bleibt so lange auf freiem Fuß, bis das Urteil rechtskräftig ist. Erst nach der Revisionsentscheidung wird das der Fall sein.