Bremen. Ein Sonntag im spanischen Saragossa. Die Sonne brennt, es ist heiß im Nord-Osten Spaniens. Für Senioren kann die Hitze zur Hürde werden: Soll man rausgehen? Auf den Bus warten, wenn neben der Haltestelle kein Baum ist, der Schatten spendet? Wann muss man los, um vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause zu sein? Diese Informationen sind relevant für Senioren, doch die Kartendienste der großen Internetanbieter liefern sie nicht. Sie zeigen die schnellsten Verbindungen für Auto, Rad und Bahn, wo die nächste Carsharing-Station ist, oder in welchen Bars der Stadt auch spät in der Nacht noch was los ist. Das ist relevant für Menschen, die sich selbstverständlich durch die digitale Welt bewegen. Für Senioren sind andere Informationen wichtig. Wo ist eine Bank, um auf einem Spaziergang eine kurze Pause einzulegen?
Kein Angebot, keine Nutzer. Informatik-Professor Herbert Kubicek von der Universität Bremen sagt, es sei wie mit der Henne und dem Ei. „Senioren sagen: Da ist nichts für mich drin, dann kaufe ich nicht das teure Gerät oder den Internetanschluss“, sagt Kubicek. Ein Investitionsdilemma. Gleichzeitig gebe es eben auch wenig spezielle Seniorenseiten im Netz, weil so wenige da seien.
In Deutschland waren zehn Millionen Menschen, die älter als 70 Jahre sind, noch nie im Internet. Die Zahl stammt aus Kubiceks Studie „Nutzung und Nutzen des Internets im Alter“. „Da sind noch nicht mal Leute eingerechnet, die nur mal eine E-Mail geschrieben haben“, sagt er. „Sonst wären es noch mal zehn Millionen Menschen mehr.“
Kubicek hat für seine Studie gemeinsam mit einem großen Telekommunikationsunternehmen Tablets in Senioreneinrichtungen verliehen. Davor und danach hat er die Menschen interviewt. „Ältere Menschen sind generell vorsichtiger, wenn sie sich etwas nicht zutrauen“, sagt Kubicek. „Wenn sie das Gefühl haben, damit nicht zurechtzukommen, dann lassen sie es im Zweifel.“ Selbstwirksamkeitserwartung nennen das die Psychologen. Um die Hemmung zu überwinden, hat Kubicek zwei zentrale Motivationen von Senioren erfahren, die sie ins Netz bringen. Der Kontakt mit der Familie und Mobilität. „Alles was mit Karten oder Busfahrplänen zu tun hat, ist spannend“, sagt Kubicek.
An diesem Punkt setzen die vier Pilotprojekte des EU-Forschungsprogramms „Mobile Age“ an. In Saragossa werden Karten erstellt, die Barrieren für Senioren berücksichtigen, in Thessaloniki entwickelt man eine Gesundheits-App, im englischen Lancashire eine Event-App speziell für Senioren – und in Bremen sind digitale Stadtteilwegweiser entstanden.
Juliane Jarke leitet das Bremer Projekt, die Informatikerin arbeitet am Institut für Informationsmanagement (Ifib) an der Universität Bremen. Sie sammelt Daten, die für mobile Senioren in Bremen spannend sind. Seit Kurzem ist der Prototyp für den Stadtteil Hemelingen online, für Osterholz gibt es ihn schon ein paar Monate. Eine mobile Webseite, auf der kulturelle Einrichtungen, Treffs und Beratungen angezeigt werden, aber auch Routen für Spaziergänge, Bänke, Toiletten oder Sport- und Bewegungsangebote. Auf einer interaktiven Karte können Nutzer anklicken, welche Angebote sie auf der Karte sehen wollen. So können Senioren von zu Hause planen oder unterwegs schnell nachschauen, was in ihrer Nähe ist. „Oft wird sich bei der Entwicklung von Technik für Senioren nur auf Defizite konzentriert“, sagt Jarke. „Aber viele Senioren sind sehr aktiv, und wollen etwas in diese Richtung entwickeln.“
Die Darstellung als mobile Internetseite und nicht in einer App sei für die Zielgruppe wichtig. „Senioren haben häufig ältere Geräte, die sie von ihrer Familie bekommen“, sagt Jarke. „Bei Apps wird es dann schwierig für alle unterschiedlichen und älteren Betriebssysteme nachhaltig etwas anzubieten.“ Die mobile Webseite sei zugänglicher.
Die Nutzer wurden in die Entwicklung des digitalen Stadtteilwegweisers eingebunden. „Man kann so ein Angebot nicht im luftleeren Raum entwickeln“, betont Jarke. Gemeinsam sei man durch die Stadtteile gezogen, habe die Daten notiert und digitalisiert. „In der Expertise von Senioren liegt viel Potenzial für die Gesellschaft“, sagt Jarke. Sie hofft, dass sich in weiteren Bremer Stadtteilen Gruppen gründen und einen Wegweiser erstellen.
Einige der Helfer in Osterholz und Hemelingen hätten vorher noch nie ein Tablet in der Hand gehabt, andere seien schon fit für die digitale Welt gewesen. „Der Jüngste war 55 Jahre alt, der Älteste 80“, sagt Jarke. Zum einen soll die Webseite allen Senioren in den Stadtteilen helfen, aber auch die Helfer motivieren dabeizubleiben. „Der Projektgedanke ist viel motivierender für Senioren als abstrakte Erklärungen über die Geräte oder das Internet“, sagt Jarke. So lerne man schneller den Umgang mit den Geräten.
Günther Meyer ist ein Helfer der ersten Stunde. Der 68-Jährige war früher als Softwareentwickler und Ingenieur tätig. Jetzt ist er in Rente. „Er ist jede Parkbank abgefahren und hat nachgeschaut, ob es sie noch gibt“, sagt Juliane Jarke über Meyer. „Allein in Hemelingen waren das ein paar Hundert“, sagt der.
Die Daten hat Meyer von der Stadt Bremen. Offene Daten der Verwaltung, die Meyer überprüft hat und die durch das Projekt digitalisiert und nutzbar gemacht werden. Ob er den digitalen Stadtteilwegweiser jetzt auch selber nutzt? „Ich war ja jetzt schon überall“, sagt er und lacht. Aber einige andere Helfer hätten während den Rundgängen zur Datensammlung ganz neue Ecken entdeckt.
Den Helfern fiel auf, dass Meyer auf viele Fragen zur Technik eine Antwort wusste. Der 68-Jährige arbeitet schon lange mit Computern. „Da kam der Wunsch auf, dass ich mal eine Gruppe leite.“ Seit Januar bietet Meyer nun ehrenamtlich im Gemeindehaus in Hemelingen einen Computer-Treff an. „Ich halte da keine Vorträge“, sagt Meyer. „Wir versuchen immer, gemeinsam eine Lösung zu finden.“ Probleme mit Fotos und Bildern, ins W-Lan einwählen oder Kontakte hinzufügen: „Einfache Sachen, die man schnell lösen kann, wenn man jemanden hat, der einem hilft“, sagt Meyer.
Für Herbert Kubicek sind solche Sprechstunden der beste Weg, um Senioren ins Internet zu bringen – und damit sie dortbleiben. „Wir brauchen eine flächendeckende Infrastruktur für Sprechstunden und dauerhafte Hilfen“, sagt er. „Da müssten Bund und Länder viel mehr tun.“ Diese Infrastruktur brauche man dauerhaft, denn auch die Digital Natives von heute würden in Zukunft Hilfe benötigen, um die neue Technik zu verstehen. Nicht nur in Saragossa, Thessaloniki, Lancaster und Bremen – sondern überall.
Weitere Informationen
Die digitalen Stadtteilwegweiser sind im Internet abrufbar unter:
www.bremen.de/leben-in-bremen/wohnen/stadtteile/osterholz-senioren
und
www.bremen.de/leben-in-bremen/wohnen/stadtteile/hemelingen-senioren