Endet diese Fahrt, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat? „Irgendwas scheint mit dem Ruder nicht zu stimmen“, raunzt Daniel Hazenberg. Er drückt ein paar Knöpfe, doch nichts tut sich. Ist womöglich eine Sicherung ausgefallen? Sein Steuermann macht sich bereits auf den Weg in den Maschinenraum. „Hoffentlich nichts Ernstes, sonst könnte das unangenehm werden“, sagt er. Dabei verspricht das Wetter einen optimalen Tag für den Binnenschiffer: Blauer Himmel, Sonne, kaum Wind, die Weser fließt still vor sich hin. Nach wenigen Augenblicken gibt Hazenberg Entwarnung. Das sich anbahnende Ärgernis ist gar keins. Ein Kabel hatte den entscheidenden Knopf für die Ruderanlage verdeckt. So simpel ist es manchmal. Der Motor zischt, das Schiff setzt sich in Gang. Es kann losgehen.
Hazenberg ist in den kommenden Tagen Schiffsführer auf der „MS Lilly“ und ist für die Dettmer Reederei unterwegs, Bremens größte Binnenschiffsreederei. Der 74-Jährige muss sich mit dem 86 Meter langen Koloss erst noch vertraut machen, er steuert ihn auf dieser Tour zum ersten Mal. 51 Jahre alt ist das Schiff, das seit diesem Jahr zur Flotte von Dettmer gehört. Dennoch ist es gut in Schuss, so Hazenberg. Er liebe alles, was mit Technik zu tun habe. Davon gibt es hier einiges: Etliche Knöpfe, Hebel, ein Radar sowie ein Monitor zeigen Position und Streckenverlauf. Hazenberg braucht also nicht lange, um mit „Lilly“ warm zu werden.

Binnenschiffer Daniel Hazenberg auf seinem Platz im Steuerhaus.
Die Nacht haben er und Steuermann Richard Zradula an einem Liegeplatz in Hemelingen verbracht. Tags zuvor haben sie das Schiff im Industriehafen beladen lassen. Bei der Planung der Fracht muss die Reederei einiges beachten: die Tragfähigkeit, Brückenhöhen, Pegelstände. Dettmer transportiert sowohl Trocken- als auch Flüssiggüter auf Europas Wasserstraßen. 2,6 Millionen Tonnen hat das Unternehmen nach eigenen Angaben 2022 befördert. Und auch die aktuelle Ladung wiegt schwer. An Bord befinden sich 63 Stahlrollen, jede einzelne kann bis zu 32 Tonnen auf die Waage bringen.
Transport für Stahlproduzenten von Bremen nach Belgien
Hazenberg und Zradula werden die Rollen in den kommenden sechs Tagen für einen bekannten Stahlproduzenten bis nach Geel in Belgien fahren und anschließend wieder nach Bremen zurückkehren. Am Vorabend haben sie per Fahrrad einen Abstecher zum nahe gelegenen Supermarkt gemacht. Während Zradula gerne kocht, setzt Hazenberg auf Fertiggerichte. „Doch die deutschen sind nicht so gut wie die niederländischen“, sagt er. Die Niederlande sind Hazenbergs Heimat, doch inzwischen lebt er in Rumänien. „Richtig zu Hause bin ich aber sowieso nur auf dem Wasser.“
Das ist kein Wunder, Hazenberg ist quasi auf Flüssen groß geworden, schon sein Vater war Binnenschiffer, die ganze Familie lebte zeitweise mit an Bord. Auf seinem Handy zeigt er Fotos von damals. Es sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen von ihm als kleiner Junge. „Unser Beiboot war mein Spielplatz“, sagt er. Immer nur an einem Ort zu leben, das sei nichts für ihn. 47 Länder habe er schon bereist, darunter Vietnam, Thailand, die USA, und natürlich all die Wasserstraßen Europas mit den dazugehörigen Ländern. Nach mehr als 50 Jahren als Schiffsführer könnte Hazenberg mit 74 Jahren eigentlich längst in Rente gehen. Doch er habe in Rumänien eine jüngere Partnerin mit Kindern, für die er zusätzlich aufkomme. „Das kostet“, sagt er.
Ländliche Idylle hinter der Stadt
Von seinem Steuerhaus aus überblickt Hazenberg einen Großteil der abgedeckten Ladefläche und seiner Umgebung. Der kleine Raum wurde vor wenigen Jahren modernisiert, je nach Wetterlage kann er eine Heizung aufdrehen oder eine Klimaanlage einschalten. Mit circa zwölf Kilometern in der Stunde geht es von Bremen aus gemächlich die Weser aufwärts in Richtung Minden. Vorbei am Hemelinger Hafen und der „Kompletten Palette“ wird es schnell ländlich.

Wer auf der Weser fährt, kann Natur und Tiere beobachten – auch Rinder am Strand.
„Die Weser ist ein schöner Fluss“, sagt Hazenberg. Nicht so breit wie der Rhein oder die Donau, auf denen er noch lieber fahre – aber nett anzusehen. Üppiges Grün, weites Land mit idyllischen Dörfern, vereinzelt kleine Strände, auf denen Rinder und Pferde eine Pause machen. Schnell hat man die Stadt vergessen. „Gute Fahrt“, hat ein Ausflugslokal über die gesamte Fläche der Terrasse geschrieben. Die vielen sanften Windungen der Weser bereiten dem Schiffsführer etwas mehr Arbeit, denn er muss mehr steuern. Viele andere Schiffe kommen der „Lilly“ an diesem Vormittag nicht entgegen. Und wenn doch, reduziert Hazenberg die Geschwindigkeit. „Ich gehe an schmalen Stellen lieber auf Nummer sicher“, sagt er.
Während Hazenberg all das von seinem Stuhl aus beobachten kann, ist der zweite Mann an Bord ständig in Bewegung. Zradula übernimmt praktisch alles, was sonst noch anfällt: Reparieren, Streichen, Putzen, Maschinen warten. Zu Hause in der Slowakei boxt der 46-Jährige, um sich fit zu halten. Darauf verzichtet er auf der „MS Lilly“. „Man sammelt auch so ausreichend Schritte“, sagt er. Alle paar Stunden überprüft Zradula die Maschinen. Bevor es unter Deck geht, greift sich der Steuermann ein Paar Ohrschützer, ohne die wäre es dort unten zu laut. Liebevoll zeigt er auf den Motor, ein Deutz 545, 1000 PS stark. „Müsste man den mit Autos vergleichen, wäre er ein Rolls-Royce“, schwärmt er.

Bis zu 32 Tonnen wiegt eine Stahlrolle, die das Binnenschiff befördert. Bei der Beladung müssen Crew und Hafenmitarbeiter genau darauf achten, dass das Gewicht gleichmäßig auf der Ladefläche verteilt wird.
Zwei Wohnungen an Bord
Vier Wochen am Stück ist der Slowake an Bord, danach geht es für einige Wochen nach Hause, bevor der Rhythmus von vorne startet. Die Schiffsführer wiederum haben einen zweiwöchigen Turnus. „Manchmal ist es einsam, aber dafür bin ich danach längere Zeit am Stück bei meiner Familie“, sagt Zradula. Er und Hazenberg haben je eine Wohnung im Bug- und Heckbereich des Binnenschiffes. Rosa Gardinen vor den Fenstern, Holzvertäfelungen an den Wänden – auch wenn die Einrichtung eher den Charme vergangener Jahre versprüht, sind die Bereiche mit Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer immerhin voll ausgestattet. „Es ist alles da, was man braucht, und man kann es sich abends vor dem Fernseher gemütlich machen“, sagt Zradula.

Steuermann Richard Zradula macht das Schiff in der Schleuse fest.
Für viel mehr bleibt auch keine Zeit. Bis zu 14 Stunden dürfen die beiden pro Schicht unterwegs sein. Da bleibt wenig Spielraum für Erkundungen an den Anlegestellen. Ein kleiner Spaziergang vielleicht, doch die Arbeit steht im Vordergrund. Wie weit sie an diesem Tag kommen und wo genau sie am Abend Halt machen werden, ist laut Hazenberg noch unklar. Das hänge von vielen Faktoren wie der Witterung, Pegelständen, dem Verkehr ab. Den ersten Zwischenstopp legen sie in Langwedel ein – dort befindet sich eine Schleuse. Manchmal ist das Millimeterarbeit, doch heute klappt das Einfahren reibungslos. Zradula macht das Tau fest, dann steigt das Wasser langsam an.
Nach einigen Minuten öffnen die Schleusentore schon wieder. Für Daniel Hazenberg und Richard Zradula ist die kurze Pause vorüber - es geht flussaufwärts, immer weiter.