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Die Gestressten Warum es Beschäftigten in Bremen schlecht geht

Eine neue Studie der Arbeitnehmerkammer hat sich mit der Entgrenzung von Arbeit beschäftigt und darin anhand von Fallbeispielen gezeigt, wie viel Stress Beschäftigte in vielen Betrieben ertragen müssen.
19.01.2017, 00:00 Uhr
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Warum es Beschäftigten in Bremen schlecht geht
Von Katharina Elsner

Eine neue Studie der Arbeitnehmerkammer hat sich mit der Entgrenzung von Arbeit beschäftigt und darin anhand von Fallbeispielen gezeigt, wie viel Stress Beschäftigte in vielen Betrieben ertragen müssen.

Es beginnt alles mit seiner Nase, die nicht aufhört zu bluten. Olaf Stahl* ist am Arbeitsplatz und weiß: Jetzt reicht‘s. Realisiert hat er das schon vor zwei Jahren. Dabei geht es ihm, Ende 50, schon ergraut, eigentlich ganz gut. Er hat eine Familie, die ihm den Rücken stärkt, seine Arbeit macht ihm Spaß und dem Unternehmen, in dem er arbeitet, geht es gut. Er ist Ingenieur.

Das Unternehmen sitzt in Bremen und anderen Orten der Welt – und es hat gerade wieder neue Rekordergebnisse in der Produktion erzielt. Trotzdem: Olaf Stahl ist gestresst. Ähnlich geht es Maike Baumgarten*. Sie arbeitet bei einem Lebensmittel-Discounter – unterbesetzt, ständig unter Zeitdruck.

Die gelernte Einzelhandelskauffrau hat drei Jahre Ausbildung hinter sich und mehrere Jahrzehnte Berufserfahrung. Aber eigentlich macht sie das, was eine ungelernte Aushilfe auch macht: Verpacken, auspacken, Lkw ausladen, kassieren, Kunden helfen.

"Entgrenzung von Arbeit und ihre Auswirkungen auf Familie und Gesundheit"

Und Maike Baumgarten ist eine der mehr als 28.000 Mitarbeiter im Bremer Einzelhandel. Ihr Interview und das mit Olaf Stahl stammen aus einer Studie mit Fallbeispielen, die die Arbeitnehmerkammer Bremen an diesem Donnerstag veröffentlicht. Titel: „Entgrenzung von Arbeit und ihre Auswirkungen auf Familie und Gesundheit.“

Auf 60 Seiten zeigen die Autoren, was Arbeit mit Menschen wie Stahl oder Baumgarten anrichtet: Wie Arbeit sich verändert und ins Familienleben hineinwirkt, und welche gesundheitlichen Schäden sie anrichten kann. Dafür sprachen die Autoren mit Mitarbeitern im Einzelhandel und Ingenieuren aus verschiedenen Branchen. Die Studie ist nicht repräsentativ aber signifikant.

Zurück zur Kauffrau Baumgarten: Sie muss in Schichten arbeiten, die Filiale hat von 7 bis 22 Uhr geöffnet. Das Problem: Ihr Marktleiter plant die Schichten von Woche zu Woche. Ihr Leben kann sie so nicht planen, kaum Arzttermine machen, Kurse im Sportverein und Freunde besuchen, oder sich ehrenamtlich engagieren.

Auch die Partnerschaft leidet

Jede Woche kann Baumgarten in unterschiedlichen Schichten arbeiten, mal früh, mal spät, oft am Wochenende. Meist stelle die Marktleitung die Pläne erst am Freitag oder Samstag fertig. Darunter leide auch die Partnerschaft: „Abends spät zurück und dann gleich ins Bett, da haben wir uns dann schon mal drei Tage nicht gesehen“, erzählt einer über seine Ehe.

Der Grund: Der Marktleiter bekommt von der Firma jede Woche ein bestimmtes Stundenkontingent gestellt, das sich an dem geschätzten Umsatz der kommenden Woche orientiert. Die Arbeit müssen die Angestellten in diesem Zeitkontingent erledigen, für zusätzliche oder Mehrarbeit gibt es nicht mehr Stunden.

„Alle stehen unter Strom. Ständig rotiert es in meinem Kopf: Schaffe ich die Arbeit? Es ist ein Hamsterrad“, sagt Baumgarten. Dabei hat sie noch Glück; sie hat eine Vollzeitstelle, wird nach Tarif bezahlt, ihre Kinder sind schon erwachsen.

Auch befristete Jobs

Andere werden nur befristet eingestellt, als Praktikanten oder 450-Euro-Jobber – die seien flexibler, und können Überstunden machen, für die keine Zuschläge gezahlt werden. Wenn die Überstunden überhaupt notiert werden. So steht es in der Studie der Arbeitnehmerkammer. Das sei immer noch günstiger, als jemand Neues einzustellen, erzählt auch Baumgarten.

Ingenieur und Kauffrau – unterschiedlicher könnten Lebenswirklichkeiten auf den ersten Blick kaum sein. Ingenieure werden gut bezahlt, arbeiten kaum als Leiharbeiter, Teilzeit und Home-Office sind möglich. Olaf Stahl ist dafür zuständig, im Unternehmen bestimmte Probleme an Maschinen zu lösen, egal, ob die Maschinen nun in Paris, Rom oder Bremen stehen.

Stahl ist gerade krankgeschrieben. Vielleicht weil er schon älter sei, vielleicht aber auch, weil sich die Arbeitsbedingungen seiner Branche in den letzten 20 Jahren komplett verändert haben. Früher hätte sein Team gemeinsam an den kaputten Maschinen getüftelt.

"Ich schaffe das schon"

Heute sitzt er allein da und muss manchmal innerhalb von Stunden eine Lösung dafür finden. Erst dann präsentiert er diese einem Kollegen – das Vier-Augen-Prinzip greift. Aber: „Ich bin so ein Typ, der sagt: Ich schaffe das schon“, sagt Stahl. Vielleicht hat ihm das das Nasenbluten eingebracht. Es war wohl kurz vor Burn-out, aber er hat die Reißleine gezogen und sich professionelle Hilfe gesucht.

Während Maike Baumgarten hauptsächlich mit Kolleginnen arbeitet, ist Stahls Branche von Männern dominiert. Früher, sagt er, hätten er und sein Team von der Idee bis zur Zulassung der Maschinen alles selbst gemacht. Sie hätten 150 Fälle im Monat bearbeitet, heute seien es doppelt so viele. Trotz Mehrbelastung mache ihm das alles Spaß.

Nur: Wenn Kollegen ihn anschrien, weil er „schon“ nach sieben Stunden Feierabend mache (bei einer 35-Stunden-Woche), war das zu viel für ihn. „Es gehört hier inzwischen zur Kultur, dass Vorgesetzte und Kollegen noch um 22.30 Uhr anrufen oder mailen und eine Antwort wünschen, am besten innerhalb einer Stunde“, verrät einer der Befragten in der Studie der Arbeitnehmerkammer, der im gleichen Unternehmen wie Stahl arbeitet.

Druck führt nicht zu mehr Leistung

Heinz-Herbert Grabowski ist bei der Gewerkschaft Verdi zuständig für den Bereich Handel und sagt: „Die Firmen müssen umdenken und darüber nachdenken, wie sie mit ihrem Kapital, ihrem Personal, umgehen.“ Es sei ein Irrglaube, dass Druck zu mehr Leistung führe. Aber das System Einzelhandel arbeite mit Leistungsdruck, dem schlechten Gewissen und dem sozialen Druck.

Maike Baumgarten kritisiert ihre Kolleginnen – und meint eigentlich auch sich selbst. „Wenn zum Feierabend noch die halbe Palette dasteht, die ich noch nicht ausgeräumt habe, mache ich das trotzdem noch. Weil ich weiß, dass meine Kollegen das sonst am nächsten Morgen machen müssen.“

Laut Baumgarten gibt es in jedem Discounter zu wenig Leute. „Wer krank ist, kommt trotzdem zur Arbeit“, sagt auch Grabowski von Verdi. Die Angst, seinen Job zu verlieren, sei hoch. Nur: „Wenn sie einmal krank sind, dann richtig“, ergänzt der Gewerkschafter. Laut Arbeitnehmerkammer sei der Krankenstand im Einzelhandel in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen.

Man will seine Kollegen nicht im Stich lassen

„Man müsste mehr Leute haben. Seitdem ich im Betrieb arbeite (zweieinhalb Jahre), hatte ich vielleicht zehn Samstage frei“, sagt einer der Studien-Teilnehmer. Eigentlich erhalten die Mitarbeiter als Ausgleich einen anderen Wochentag frei. Nur, was ist, wenn ein Kollege krank wird?

„Es kann sein, wenn man einen einzigen Tag frei hat in der Woche, dass man angerufen und gebeten wird, zu kommen“, erzählt ein anderer. Man wolle seine Kollegen nicht im Stich lassen. Für Olaf Stahl ist das in seiner Firma ein Grund, dass viele Kollegen ein prall gefülltes Überstundenkonto haben, mit dem sie die nächsten drei Monate frei machen könnten.

Im Engineering gelten offensichtlich die gleichen Regeln wie im Einzelhandel: Die Belastung für den Einzelnen ist gestiegen, der Zusammenhalt schwindet, die Unternehmen betreiben eine falsche Personalpolitik – zumindest zulasten der Mitarbeiter. Das ist das Fazit der Studie. Stahl kehrt jedenfalls bald wieder zurück zur Arbeit. Er wolle es ruhiger angehen lassen, die paar Jahre bis zur Rente. Aber er hat Angst, dass es seinen Kollegen bald ergehen wird wie ihm.

* Namen von der Redaktion geändert

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