Die Klimaschutzziele der Bundesregierung sind ambitioniert, bis 2030 soll der Ökostromanteil von derzeit etwa 50 auf 80 Prozent steigen. Einen großen Teil davon soll die Windenergie abdecken, die installierte Leistung soll sich verdoppeln. Als Bremse für den Ausbau der Erneuerbaren könnte sich allerdings der Fachkräftemangel erweisen, unter dem die Branche genauso leidet wie die Bereiche Pflege, Einzelhandel oder Gastronomie. In der Solar- und Windenergie fehlten derzeit 216.000 Fachkräfte, hieß es im Herbst 2022 in einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).
Woher sollen sie also kommen, all die Elektriker, Mechaniker, Servicetechniker, Schweißer, Lackierer und Anlagenbauer, die die Energiewende tagtäglich umsetzen?
Servicedienstleister für Windkraftanlagen
Antworten auf diese Frage sucht man beim 2009 gegründeten Bremer Unternehmen RTS Wind. Firmenchef Ivo Lippe, 58 Jahre alt, weißes Hemd, graue Kurzhaarfrisur, empfängt zusammen mit seinem Vorstandskollegen Marvin Benker und Marketingchefin Kristin Schmidt in den Büroräumen des Unternehmens in der Überseestadt. RTS versteht sich als Servicedienstleister für Windkraftanlagen, das vor allem Personal für die Bereiche Wartung und Rotorblattservice, Aufbau und die Optimierung von bestehenden Anlagen, das sogenannte Retrofit, vermittelt. 225 Mitarbeiter hat das Unternehmen in Bremen, 300 sind es mit den entsprechenden Tochtergesellschaften in Österreich, Portugal und Taiwan.
Ivo Lippe hat ein bisschen was gesehen von der Welt, er ist in Kanada aufgewachsen und hat als Kind ein Jahr in der irakischen Hauptstadt Bagdad gelebt. 1975 kam er mit seinen Eltern nach Bremen, hat dann später Informatik studiert und erfolgreich ein Personaldienstleistungsunternehmen aufgebaut. „Es ging bei der Gründung damals auch darum, einen eigenen Beitrag für eine nachhaltigere Lebensweise zu leisten“, erklärt der zweifache Vater, dessen Kinder ebenfalls bei RTS arbeiten.
2000 Windenergieanlagen betreut das Unternehmen momentan weltweit. Die Internationalisierung begann vor etwa zehn Jahren mit dem Aufkauf und der Gründung von Windkraft-Spezialfirmen und Zeitarbeitsunternehmen. „Uns war damals schon klar, dass der Boom im Bereich der regenerativen Energien einerseits und der Personalmangel andererseits für uns als mittelständisches Unternehmen einen Marktvorteil bieten wird“, erklärt Ivo Lippe die Strategie von RTS.
Während das Unternehmen früher per Arbeitnehmerüberlassung ausschließlich anderen Firmen Personal zur Verfügung gestellt hat, läuft die Anstellung inzwischen über eigene Werkverträge. „Wir übernehmen heute das komplette Programm mit Wartung und Service der Anlagen, aber nicht nur mit unserem Personal, sondern auch mit Equipment wie etwa unseren eigenen Rotorblatt-Befahr-Anlagen“, erklärt Vorstandsmitglied Marvin Benker.
Geschäftsführer glaubt an erneuten Boom
Ivo Lippe glaubt, dass es nach dem Abflauen der Windkraft ab 2018 in den kommenden drei, vier Jahren einen erneuten Boom des Geschäfts geben wird. „Der Markt kommt“, prophezeit der RTS-Gründer, auch vor dem Hintergrund der neuen Klimaziele der Bundesregierung, die wiederum mit der angestrebten Unabhängigkeit von russischem Öl und Gas zu tun haben.
Zwei große Themen sieht Lippe in Zusammenhang mit dem avisierten Ausbau als die Herausforderungen der Zukunft: Die Ressourcen bei der Hardware wie Bauteile und Technik und vor allem das fehlende Personal. Denn selbst wenn Ausbauhemmnisse wie Flächenmangel und Genehmigungsstaus, Rechtsstreitigkeiten und mangelnde Investitionen ausgeräumt würden, „braucht man immer noch die Menschen mit entsprechender Ausbildung“, wie er sagt.
RTS Wind sucht europaweit und bis nach Afrika nach geeignetem Fachpersonal vorwiegend aus dem handwerklichen Bereich. Man betreibt Akquise über Social Media, über die Firmen-Website und schreibt potenzielle Bewerber über „Active Sourcing“ direkt an. Dafür bezahlt man als suchende Firma den Zugriff auf nicht öffentliche Informationen in den Datenbanken von großen Bewerberportalen.
Bürokratie als Problem
„Wir könnten heute 200 Leute einstellen, die alle am nächsten Tag vermittelt wären“, berichtet Vorstandsmitglied Marvin Benker über die Lücke zwischen guter Auftragslage und angespannter Personalsituation. Früher habe man stapelweise Bewerbungen sortiert, heute sei man froh über jede einzelne, sagt Marketingchefin Kristin Schmidt.
Vor allem die Bürokratie bei der Integration ausländischer Fachkräfte in das deutsche Sozialsystem sei ein Problem. Drei bis sechs Monate könne die Prüfung eines nicht-deutschen Berufsabschlusses dauern – das sei deutlich zu lang für ein mittelständisches Unternehmen wie RTS. „Und wenn man bei diesen Bewerbern in den Lebenslauf schaut, stehen da Arbeitsstationen in Dänemark, Schweden, den Niederlanden und Österreich. Die konnten überall arbeiten, nur in Deutschland nicht“, wundert sich Marvin Benker.
Da die Arbeitssprache auf den internationalen Baustellen Englisch ist, sei auch das mangelnde Fachenglisch mancher deutscher Bewerber ein Problem. „Da sind viele Ausländer deutlich fitter“, sagt Ivo Lippe. 70 Prozent deutsche Arbeitnehmer hat RTS, 30 Prozent kommen hauptsächlich aus Europa. Kristin Schmidt erwähnt das Haftungsproblem, wenn ein Mitarbeiter nicht genug Englisch versteht. „Die Sprache ist relevant für die Sicherheit. Da müssen wir sehr strikte Regeln einhalten."
Grund für den Fachkräftemangel seien auch die gestiegenen Ansprüche der Arbeitnehmer, Stichwort „Work-Life-Balance“. „Unsere Windparks stehen nun mal nicht vor der Haustür, das heißt die Kollegen müssten schon reisebereit sein. Für Auslandseinsätze auch mal vier bis sechs Wochen am Stück“, erklärt Marvin Benker. Dafür hätten zum Beispiel Windkraft-Service-Techniker Chancen auf spannende Jobs mit sprichwörtlich blendenden Aussichten von den bis zu 160 Meter hohen Maschinenhäusern der Anlagen.
„Das Thema Nachhaltigkeit wird in der Öffentlichkeit oft sehr plakativ benutzt“, kritisiert RTS-Marketingchefin Kristin Schmidt. „Aber wir haben es hier mit der täglichen Realität der Energiewende zu tun."