Herr Giesinger, nachdem Ihre ersten beiden Platten die Titel „Laufen lernen“ und „Der Junge, der rennt“ trugen, heißt ihr neues Album „Die Reise“. Gehören Sie zu jener Sorte Menschen, die ständig in Bewegung sind?
Max Giesinger : Ja, sowohl gedanklich als auch in dem Sinne, dass ich immer unterwegs und auf Tour bin. Die letzten Jahre waren wirklich abgefahren. 2016 habe ich um die 100 Shows gespielt, 2017 waren es sogar 180. Auch wenn ich schon über drei Jahre in Hamburg lebe, hatte ich bisher wenig Zeit, Wurzeln zu schlagen. Das macht natürlich etwas mit einem, wenn man kaum noch Zuhause ist und ständig auf großen Bühnen steht. Auch wenn damit mein Traum in Erfüllung gegangen ist.
Sie haben auf Tour 120 000 Kilometer zurückgelegt, auf Bergen, Burgen und im Bergwerk gespielt. An welchen Moment erinnern Sie sich besonders gerne zurück?
An meinen Auftritt bei „Das Fest“ in Karlsruhe, weil ich damit so viele Kindheitserinnerungen verbinde. Das war das erste Open Air Festival, das ich als Gast besucht habe. Die Kulisse ist einfach toll, du siehst dort das ganze Ausmaß von 40.000 Menschen. Ich hatte immer den Traum, da irgendwann selbst auf der Bühne zu stehen, und habe bei etlichen Wettbewerben mitgemacht, wo man Auftritte gewinnen konnte – ich bin aber immer rausgeflogen. Nach „80 Millionen“ kam dann die Anfrage. Der Auftritt war zwar schon um 16 Uhr, aber egal. Ich war so aufgeregt!
Bei allen positiven Erlebnissen gab es auch Gegenwind: Jan Böhmermann kritisierte Sie in seinem Beitrag „Eier aus Stahl: Max Giesinger und die deutsche Industriemusik” scharf.
Mein erster großer Shitstorm!
Wie sind Sie damit umgegangen?
Am Anfang habe ich versucht, das überhaupt nicht an mich ranzulassen. Irgendwann habe ich aus Macht der Gewohnheit dann doch Facebook aufgemacht. Böhmermanns Song „Menschen Leben Tanzen Welt“ ist ja echt witzig – aber in den Kommentaren zu lesen, wie die Leute einem die Arbeit aberkennen… es war ja niemand dabei. Keiner weiß, wie es wirklich war.
Wie war es denn wirklich? Böhmermann warf Ihnen ja vor, dass Sie in einem Interview gesagt haben, Sie würden Ihre Texte mit Hilfe eines Freunds selbst schreiben, in Wirklichkeit aber mit Autoren arbeiten, die für viele andere deutsche Künstler schreiben.
Das war eins der ersten Interviews, die ich zu ‚Der Junge, der rennt‘ gegeben habe. Ich war noch sehr unerfahren und wusste nicht, wie ich diese Frage beantworten soll. Ich habe wirklich ganz viel mit einem Kumpel geschrieben – ein bekanntes Lied entstand allerdings mit mehreren Leuten. Das waren aber schon meine Freunde, ich habe also nicht gelogen. Und dass ich eine Marionette der Plattenfirma, wie einige Leute schrieben, stimmt einfach nicht. In den Songs stecken meine Geschichten und es war mir immer wichtig, dass ich auch Songwriter bin.
Fühlten Sie sich missverstanden?
Ungerecht behandelt, weil mir alles aberkannt wurde. Um mein erstes Album über Crowdfunding zu finanzieren, habe ich in Wohnzimmern, auf Hochzeiten und auf Tupperpartys gespielt. Auch wenn meine Musik nicht Indie war, komme ich aus diesem Indie-Ding. „Der Junge der rennt“ war fertig geschrieben, bevor ich einen Plattenvertrag dafür hatte. Mir hat keiner gesagt ‚schreib noch mal einen Hit‘, sondern ich hatte einfach Bock auf Popmusik.
Was bedeutet Ihnen Musik?
Musik war immer ganz klar mein einziges großes Talent. Ich habe mich in der Schule schwergetan und bin auch nie der selbstbewussteste Typ gewesen. Die Fußballer saßen im Bus in der ersten Reihe und hatten mich auf dem Kieker – da musste ich mir jeden Morgen ein paar Sprüche gefallen lassen. Ich machte dann meinen Discman an und hörte „Don’t Stop Me Now“ von Queen. Irgendwann hat meine Mutter mich zum Gitarrenunterricht geschickt.
Und Ihre Leidenschaft entflammte?
Mir hat das einfach unglaublich viel Spaß gemacht. Ich spielte stundenlang und meine Mutter musste mich wirklich von der Gitarre wegziehen. Mein Lehrer hat mich auch immer gelobt. Als Kind ist es ja enorm wichtig, Bestätigung zu bekommen. Einmal im Jahr gab es dann ein Konzert, bei dem ich singen durfte. Ich war natürlich wahnsinnig aufgeregt, aber fand das so toll, dass ich dachte das ist es. Ich muss es irgendwie schaffen, dass ich davon leben kann. Ich hätte aber nie gedacht, dass ich mal an diesem Punkt stehen würde.
Auf „Die Reise“ blicken Sie nun auf das Geschehene zurück: Sie zeichnen die Wege ihrer Clique nach, singen von ihrer Backpacker-Zeit in Australien, aber auch davon, was in den letzten zwei Jahren passiert ist. Woher die reflektierende Stimmung?
Das stimmt, auf dem Album sind viele Rückblicke. In den letzten zwei Jahren ist viel passiert, aber wenig Privates. Deswegen habe ich mich zum einen damit auseinandergesetzt, was das ganze Reisen mit mir gemacht hat, aber darüber hinaus hatte ich auch noch Zeit, mir über vergangene Dinge Gedanken zu machen. So entstanden Songs wie „Australien“ oder „Die Reise“.
Sie sind ja im Oktober 30 geworden…
Puh, ich tue mich noch etwas schwer damit.
Warum das?
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass damit jede Jugendlichkeit weg ist. Mit 30 hatten die eigenen Eltern längst Kinder. Man steht mitten im Leben. Als ich neulich auf dem Oktoberfest war und jemand nach meinem Alter fragte, habe ich es das erste Mal ausgesprochen: Dreißig! Da ist mir bewusst geworden, welchen Weg ich schon hinter mir habe. 30 Jahre auf diesem Planeten, wow.
Was ja bedeutet, dass Sie noch mehr als die Hälfte vor sich haben.
Im besten Fall, ja. Ich glaube als Mann wird man im Schnitt 78. Das Gute ist: Ich habe auf jeden Fall eine gewisse Grundentspanntheit, weil ich schon ein bisschen was erlebt hab. Ich hatte mal eine ganz besondere Mitfahrgelegenheit: Ich war 17 oder 18 und bin nach Köln gefahren, um Straßenmusik zu machen. Ich fuhr bei diesem älteren Typen mit und der hat mir drei Stunden lang erzählt, wo er schon überall war und was er alles erlebt hat. Ab da wollte ich immer viel erleben. Und das, was in den letzten zehn Jahren passiert ist, von den Anfängen als Musiker in Mannheim bis zu dem Punkt, an dem ich heute stehe, reicht im Grunde für zehn Leben. Da könnte ich ein Buch drüber schreiben.
Stattdessen haben Sie einen Song geschrieben: „Wir waren hier“ handelt davon, dass Ihnen all das niemand mehr nehmen kann.
Das ist die Kernbotschaft. Wer weiß, vielleicht ist das ganze ja nur von einer gewissen Dauer. Wenn ich im Februar auf Tour gehe, spiele ich in Hallen, von denen ich im Leben nicht gedacht hätte, dass ich sie mal vollkriege. Kann sein, dass das in zehn Jahren kein Schwein mehr interessiert. Deswegen versuche ich es so gut es geht zu genießen und jeden Moment aufzusaugen.
In dem Song „Zuhause“ derweil wünschen sich, irgendwann der Junge zu sein, der ankommt. Wann ist man denn angekommen?
Das ist eine gute Frage. Und was ist, wenn man angekommen ist, was macht man dann? Ist das nicht total langweilig? Ich glaube für viele bedeutet ankommen mit 65 endlich in Rente zu gehen. Aber was dann? Dann hängst du rum? Man kann doch vorher schon geile Sachen erleben. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es eher um ein partielles Ankommen geht. Zum Beispiel, wenn man mit dem Tretboot auf der Alster rumschippert. In solchen Momenten kann man kurz loslassen – und sich dann auf die nächste Reise machen. Ansonsten würde man ja stehenbleiben.
Apropos loslassen: Sie haben sich dieses Jahr eine sechswöchige Auszeit genommen, um alleine nach Thailand zu fahren.
Das war krass. Die erste Woche war ich noch mit einem Abi-Kollegen unterwegs, der auch gerade nach Hamburg gezogen ist. Danach wollte ich dann mal gucken, wie es ist, ganz alleine zu sein.
Und?
Ich habe mich da wirklich gut kennengelernt. Für zwei oder drei Tage kann ich ganz gut alleine sein, aber danach wird es komisch. Wenn man alles mit sich selbst ausmacht und mit niemandem redet, kommt man schon an seine Grenzen. Mir hat diese Basis der Freundschaft gefehlt, die ich auf Tour ja immer habe. Irgendwann war ich so lange alleine, dass ich mich richtig gefreut habe, wenn mich Leute angequatscht haben (lacht). Zum Glück habe ich dann eine Strandbar entdeckt, in der jeder auftreten durfte, der Bock hatte. Da hing ich dann jeden Abend rum.
Welche Erkenntnisse haben Sie von dieser Reise mitgenommen?
Dass ich auf jeden Fall eine Balance brauche. Ich möchte weder ganz alleine in den Urlaub abhauen, noch kann oder will ich 365 Tage im Jahr auf Tour sein. Es ist wichtig, eine Mitte zu finden. Man muss nicht die ganze Zeit rennen.
Bitte ergänzen Sie:
Glück bedeutet für mich…
… auf der Bühne zu stehen und damit hoffentlich andere Leute glücklich zu machen.
Zuhause fühle ich mich…
… mit den richtigen Leuten im richtigen Moment am richtigen Ort. Zum Beispiel auf der Berghütte mit meinem Vater und Bruder, so wie vor zwei Wochen. Da habe ich mich sehr wohl gefühlt, in der Sonne.
Der schönste Ort, an den ich bisher bereits bin…
… ist ganz klar die Südinsel von Neuseeland. Wanka und Queenstown. In Wanaka bin ich das erste Mal freiwillig auf einen Berg hochgelaufen. Bis dahin fand ich wandern immer total scheiße.
Wenn ich heute loslegen dürfte…
… würde ich noch mal nach Neuseeland fliegen. Ich war damals einen Monat mit dem Bus unterwegs und das war exorbitant geil. Es gibt aber viele Orte, die ich noch nicht kenne.
Hamburg ist…
… eine der schönsten Städte Deutschlands. Sehr weltoffen, mit einem tollen Vibe und großartigen Menschen. Dieses Klischee, dass die Norddeutschen kühl sind, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Ich habe hier sehr nette Erfahrungen gemacht.
Die Fragen stellte: Nadine Wenzlick
Max Giesinger wurde am 3. Oktober 1988 in Waldbronn bei Karlsruhe geboren. Im Alter von 13 Jahren spielte er in seiner ersten Band, später trat er auf Hochzeiten und anderen Feiern auf. 2011 nahm er an der Castingshow „The Voice Of Germany“ teil und belegte den vierten Platz. Sein Debütalbum „Laufen lernen“ finanzierte er im Anschluss per Crowdfunding. Mit dem Folgealbum „Der Junge, der rennt“ gelang ihm 2016 der Durchbruch. Zuletzt saß Giesinger, der seit dreieinhalb Jahren in Hamburg lebt, in der Jury von „The Voice Kids“.