Béla Réthy ist Chef-Kommentator des ZDF bei den Spielen der Fußball-WM in Südafrika. Nach den Europameisterschaften 1996 und 2004 sowie der Weltmeisterschaft 2002 ist das Endspiel von Südafrika 2010 das vierte große Finale, das der 53-Jährige den Deutschen nahebringt.
Seit 1991 kommentiert Béla Réthy Fußballspiele im ZDF. Dabei beherrschte der in Ungarn geborene und in Brasilien aufgewachsene Reporter kein einziges Wort seiner heutigen "Arbeitssprache", bevor er mit zwölf Jahren nach Deutschland übersiedelte. Dennoch ist Réthy längst die unbestrittene Nummer eins des Fußball-Kommentars beim ZDF. So begleiteten seine Worte bereits zwei große Endspiele der Deutschen. 1996 wurden man "mit Réthy" Europameister in England, 2002 unterlag man Brasilien im WM-Finale von Tokio. Am 11. Juli darf sich der 53-jährige Fußball-Experte wieder auf ein großes Endspiel freuen - dann nämlich kommentiert Réthy das Finale der Fußball-WM 2010 in Südafrika.
teleschau: Was trauen Sie der deutschen Mannschaft in Südafrika zu?
Réthy: Die Hoffnung ist natürlich immer da, dass es ein starkes Turnier wird. Nüchtern betrachtet halte ich andere Teams aber für stärker. Mein privater Tipp ist, dass die Deutschen das Viertelfinale erreichen, aber nicht mehr. Dies wäre in meinen Augen ein Erfolg.
teleschau: Und wer spielt im Finale?
Réthy: Ich tippe auf England gegen Brasilien. Das sind für mich die am meisten ausgewogenen, stärksten Mannschaften. Spanien hat Verletzungsprobleme. Argentinien ist, glaube ich, nicht konstant genug. Italien oder Frankreich als Weltmeister? Das kann ich mir bei deren aktuellen Teams einfach nicht vorstellen. England und Brasilien sind für mich am weitesten. Dazu kommt die Wundertüte Deutschland (lacht).
teleschau: Es scheint so, dass Deutschland bei den letzten Turnieren oft in Gestalt einer Wundertüte anreiste. 2006 im eigenen Land zweifelte man vor dem ersten Spiel sogar daran, dass Deutschland die Vorrunde übersteht ...
Réthy: Genau - oder nehmen Sie 2002 die WM in Asien. Da kickten Spieler wie Linke, Rehmer oder Ramelow in unserer Nationalmannschaft. Das waren eher praktische Handwerker. Mit einem überragenden Kahn im Tor erreichten die Deutschen trotzdem das Finale. Daran würde ich immer erinnern, wenn ich heute Bundestrainer wäre.
teleschau: Damals war aber auch die Auslosung auf Seite der Deutschen. Mannschaften wie die USA oder Südkorea in der Endphase einer K.-O.-Runde - die muss man erst mal bekommen ...
Réthy: Nun gut, dafür können die Deutschen nichts. Die Gegner hatten sich immerhin für diese Phase mit starken Auftritten qualifiziert. Diesmal könnte es aber ein Wiedersehen mit Argentinien geben. Wenn beide Mannschaften in den Gruppen Erster werden und ihre Achtelfinalspiele gewinnen, gäbe es diese Paarung bereits im Viertelfinale. Dann, so prophezeie ich, wird es eng werden für die Deutschen.
teleschau: Erwarten Sie neue taktische Trends bei dieser WM, die den Fußball verändern werden?
Réthy: Ein großes Turnier setzt oft Zeichen in diese Richtung, allerdings entwickeln sich solche Dinge in der Regel erst während der vier Wochen. Alle Mannschaften befinden sich noch in der Vorbereitung. Bei der deutschen Mannschaft weiß man jetzt noch nicht einmal, wie sie spielen wird. Ob mit einer Spitze und drei offensiven Mittelfeldspielern? Durch Özil hat man plötzlich wieder die Option auf eine zentrale Spielmacherposition - die gab es für die Deutschen lange Zeit nicht. Vieles hängt davon ab, wie sich bestimmte Spieler in den letzten Tagen und Wochen vorm Turnier entwickeln.
teleschau: Wie kann eine taktische Entwicklung ein ganzes Turnier prägen, wenn doch jede Mannschaft - wie Sie sagen - personell und damit strategisch ganz anders aufgestellt sein müsste?
Réthy: Nehmen Sie die Position des Sechsers. Als Deutschland 1996 Europameister wurde, waren das noch Typen wie Dieter Eilts, reine Abräumer eben. Inzwischen ist diese Position, auch durch Turniere, die das befeuert haben, die Entscheidende im Weltfußball. Das sind hoch bezahlte Spezialisten. Als Real Madrid vor einigen Jahren ihre Mannschaft mit den Glamourfiguren des Weltfußballs wie Beckham aufgerüstet hat, gaben sie einen Defensivstrategen wie Makelele ab, weil der nicht so spektakulär spielte. Ein großer Fehler - dieses Korrektiv fehlte ihnen im taktischen Gefüge. Einige taktische Entwicklungen im Weltfußball sind so offensichtlich effizient, dass sie sich fern jeder taktischen Ausrichtung einzelner Teams durchsetzen. Das kann sehr schnell gehen - oft geschieht es bei großen Turnieren wie einer WM, wo eben auf höchstem Niveau gespielt werden muss, um etwas zu erreichen.
teleschau: Glauben Sie an eine bestimmte Art Fußball, die man in Südafrika sehen wird - oder ist das, bevor man die ersten Spiele gesehen hat, eine komplette Wundertüte?
Réthy: Über einige Dinge kann man durchaus spekulieren. Dank der niedrigen Temperaturen im winterlichen Südafrika, denke ich, sehen wir ein temporeiches Turnier. Der Aspekt Hitze entfällt völlig. Dazu spielen die Europäer in ihrer eigenen Zeitzone. Auch das sollte man nicht unterschätzen. Ich bin überzeugt davon, dass in Südafrika der Angriffsfußball dominieren wird.
teleschau: Am 11. Juli werden Sie das Endspiel dieser Fußball-WM kommentieren. Wie aufgeregt sind Sie vor einem solchen Spiel?
Réthy: Ich werde nicht nervös sein. Dennoch ist es ein besonderer Tag für mich. Da stehe ich schon mit einem anderen Gefühl morgens auf. Die inhaltlich-technische Vorbereitung auf so ein Finale ist aber wie bei jeder anderen Begegnung auch. Das Kommentieren eines solchen Spiels wird ohnehin von der Kunst des Weglassens bestimmt. Im Finale ist bereits ungeheuer viel über beide Teams, die sich da gegenüberstehen, gesagt worden. Das Turnier hat eine lange Geschichte. Im Finale sollte man eher ein bisschen laufen lassen und nicht alles, was man weiß, heraushauen.
teleschau: Sind Sie kurz vor Anpfiff eines Spiels, das sie vor Millionen von Menschen kommentieren, tatsächlich nicht nervös?
Réthy: Nein, aber ich glaube, das ist vor allem Typsache. Ein Anderer, der im Gegensatz zu mir, vor einem solchen Spiel sehr nervös ist, macht den Job deswegen nicht unbedingt besser oder schlechter.
teleschau: Worauf müssen Sie sich während eines Spiels am meisten konzentrieren?
Réthy: Darauf, möglichst nichts zu verpassen.
teleschau: Ist Ihre Konzentration mehr auf dem Spielfeld oder bei den Worten, die Sie bilden?
Réthy: Ganz klar - auf dem Spielfeld. Die Worte dazu müssen von alleine kommen - das ist wie beim Autofahren. Man denkt nicht daran, dass man jetzt vom dritten in den vierten Gang schalten müsste. Es ist automatisiert. Ich vertraue darauf, dass ich ohne Mühe die Worte zu dem finde, was ich beobachte. Vielleicht bin ich unterbewusst bei einem solchen Finale noch etwas konzentrierter als bei einem weniger bedeutsamen Spiel.
teleschau: Was ist Ihr eigener größter Trumpf im Finale?
Réthy: Meine Routine - und mein Assistent Martin Schneider. Mit dem arbeite ich seit 15 Jahren zusammen.
teleschau: Leisten Sie sich mit dem Assistenten einen besonderen Luxus oder ist es normal, dass man einen hat?
Réthy: Nein, das ist normal. Nur die lange Dauer unserer Zusammenarbeit ist ungewöhnlich. Mein Assistent beobachtet einfach mit, achtet auf taktische Dinge, mein Timing, meinen Rhythmus. Er ist ein wichtiges Korrektiv. Wenn er die Hand auf die eine oder andere Art anhebt, weiß ich schon, was er damit meint.
teleschau: Sie kommentieren Fußballspiele seit Anfang der Neunziger. Hat sich Ihr Stil im Laufe der Jahre verändert?
Réthy: Ehrlich gesagt, ich denke nicht über meinen Stil nach. Ich will es auch nicht. Vielleicht bin ich im Laufe der Zeit etwas emotionaler geworden - aber vorgenommen habe ich mir das nicht. Vorgenommen habe ich mir nur, authentisch zu bleiben.
teleschau: Nach der Boulevardisierung des Fußballs in den Neunzigern geht der Trend heute wieder in die etwas nüchternere Ecke. Auch Ihr ARD-Kollege Tom Bartels steht für dieses eher sachliche, zurückhaltende Kommentieren ...
Réthy: Ich habe den Trend zur Boulevardisierung bei den Öffentlich-Rechtlichen nie so stark gesehen. Das war eine Farbe, die in den Neunzigern durchs Privatfernsehen in die Berichterstattung hineinkam. Ich will das gar nicht bewerten. Sicher muss man bedenken, dass sich Sprache ständig modernisiert und weiterentwickelt. Heute klingt alles etwas lockerer als vor 30 oder 40 Jahren. Aber das hat mit dem Wandel der Zeit an sich zu tun. Locker kann man ohnehin nur dann sein, wenn man gut vorbereitet ist. Wenn man faktisch so fit ist, dass einen nichts umhaut. Lockerheit an sich ist keine Tugend und auch kein Trend, den ich beachtenswert finde.
teleschau: Es gibt eine andere Tendenz - die Deutschen interessiert Taktik heute mehr als früher. Hinkte der deutsche Zuschauer anderen Fußballnationen in Sachen Taktikverständnis lange Zeit hinterher?
Réthy: Fußball hat in der Medienwelt eine immer größere Bedeutung erlangt - das zeigen schon die Quoten. Allein deshalb ist es wichtig, den Leuten noch mehr zu erklären. Ich glaube aber nicht, dass sich ein normaler Fußballfan in Spanien oder Italien besser und tiefgründiger mit dem Spiel beschäftigt als ein deutscher Fan. Der einzige Unterschied in der Berichterstattung ist, dass in anderen Ländern oft zu zweit kommentiert wird. Da gibt es eine klare Aufteilung zwischen einem eher narrativen Moment - einem, der das Spiel einfach nur beschreibt und einem Co-Kommentator, oft ist es ein Ex-Profi, der analysiert, aber auch subjektiv sein darf. Wir deutsche Kommentatoren müssen beides in uns vereinen.
teleschau: Worauf freuen Sie sich besonders in Südafrika?
Réthy: Auf die Reise an sich, auf ein spannendes Land und natürlich vor allem auf die Weltmeisterschaft. Ich habe mich ein Leben lang mit Fußball-Weltmeisterschaften beschäftigt. Ich besitze daheim im Keller noch Bildbände von allen möglichen Turnieren. Meine erste bewusste WM war die 1966 in England. Damals lebte ich noch in Brasilien und saß mit meiner Oma im Park. Ich erinnere mich daran, dass wir über riesige Lautsprecher dem Radio lauschten. Und da waren dann so unaussprechliche Namen wie Beckenbauer und Tilkowski dabei - damals konnte ich noch kein Deutsch. Das WM-Fieber hat mich seit jenen Tagen im Park nie losgelassen.
teleschau: Waren Sie schon einmal in Südafrika? Welche Erinnerungen bleiben haften?
Réthy: Ich war mehrfach da. Zum ersten Mal 1995, damals kommentierte ich ein Länderspiel der Deutschen gegen Südafrika. Es war das Debüt von Marco Bode. Das Ergebnis lautete 0:0. Der deutsche Trainer hieß Berti Vogts. Nelson Mandela begrüßte uns Journalisten damals alle persönlich. Jürgen Klinsmann stellte Mandela die gesamte Mannschaft vor. Das waren sehr emotionale Momente, an die ich mich gut erinnern kann. Ich war danach noch zweimal privat in Südafrika und zuletzt 2009 bei der Auslosung.
teleschau: Was denken Sie über die Sicherheitslage im Land?
Réthy: Ich denke, dass alles okay sein wird. Sicher muss man ein bisschen die Augen aufhalten. Und nachts sollte man vielleicht bestimmte Gegenden meiden. Aber - das ist in Rio de Janeiro oder East-London auch nicht anders.