Über mehr als 600 Kilometer weit erstrecken sich die Seedeiche entlang der niederländischen Küste. Die betonummantelten Bollwerke mit ihrer grünen Graskrone schützen das Land unter dem Meeresspiegel gegen den Anstieg desselben. Die Nachbarn im Westen gelten als Experten im Deichbau – und nun haben sie sich etwas Neues ausgedacht. Mit Interesse schauen die Niedersachsen rüber nach Holland. Blumen könnten vor allem die Schutzwälle entlang der Flüsse nicht nur optisch mit ihren Blüten aufwerten, sondern auch dank ihrer tiefen Wurzeln verstärken und ganz nebenbei einen Beitrag zur Biodiversität leisten. Eine Art Booster für die Artenvielfalt – zur Freude der Insekten, die auch immer weniger werden. Da schauen die Deichbauer beim Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) genauer hin. Denn auch sie haben mehr als 600 Kilometer Deiche fit zu halten für eine Zukunft, in der die Auswirkungen des Klimawandels die Nordseewellen immer höher auflaufen lassen.
"Flower-Power – Blumen machen Deiche widerstandsfähiger" titelte der "Tagesspiegel" in einem Beitrag über das Forschungsvorhaben an der Universität Nijmegen. Die Ökologen der Radboud University und der Wageningen University & Research behaupten, dass eine Durchwurzelung mit Blumen und Kräutern die Deiche stabiler mache. In ihrem Projekt "Future Dikes", also Zukunftsdeiche, erklären sie, dass die bisherigen Grasnarben bei länger anhaltenden Trockenperioden und häufigeren Extremniederschlägen weniger erosionsbeständig sind als Blumendeiche. Noch in diesem Frühjahr will die Forschungsgruppe um den Professor am Lehrstuhl für experimentelle Pflanzenökologie, Hans de Kroon, die ersten Zwischen-Ergebnisse vorstellen. Bis dahin simulieren die Experten mit Modellen weiter, um herauszufinden, wie stark die Blütendeiche wirklich sind. Dafür lassen sie Unmengen von Wasser über Erdwälle mit verschiedensten Pflanzenteppichen laufen. Wasser haben sie schließlich genug in den Niederlanden. "Es wird noch ein halbes Jahr dauern, bis wir unsere Analysen abgeschlossen haben", sagt de Kroon auf Nachfrage, aber schon jetzt ist sich der Wissenschaftler sicher: "Das Experiment ist vielversprechend – nicht nur für Flussdeiche, sondern auch für Seedeiche."

Bunte Blüten soweit das Auge reicht: An der Ochtum setzt der Deichverband bereits auf eine Kräutermischung für eine bessere Durchwurzelung der Deichdecke.
Die Deichbau-Experten beim NLWKN in Norden (Landkreis Aurich) stehen nach eigenen Angaben in engem Austausch mit ihren Kollegen in den Niederlanden. Sie selbst experimentieren nicht mit Blumendeichen, aber sie begleiten das Forschungsvorhaben in den Niederlanden. "Abschließende Erkenntnisse liegen noch nicht vor", lässt der Sprecher des Landesbetriebes, Fabian Buß, ausrichten. Für die Hochwasserdeiche an der Küste seien die Blumen eher nichts, hier setzten die Experten hierzulande weiter auf die bewährte Grasnarbe, die die Erdwälle samt Sandkern ganzjährig zusammenhalte. Dabei, so die Niedersachsen, spiele auch die Beweidung mit Schafen eine große Rolle. Sie "mähen" nicht nur, sie treten das Gras auch fest, sodass das Wasser weniger Angriffsfläche hat. Außerdem, so der NLWKN, hätten die "begrünten Deiche in Erdbauweise" einen entscheidenden Vorteil: Sie ließen sich schlicht besser erhöhen, wenn "Anpassungsbedarf" bestehe.
Mit fortschreitendem Klimawandel wird dieser "Anpassungsbedarf" größer. Reichten bisher rund 60 Millionen Euro im Jahr für den Küstenschutz in Niedersachsen aus, werden in diesem Jahr 78,9 Millionen Euro verbaut. "Küstenschutz ist Daseinsvorsorge und für mich als Klimaschutzminister von höchster Bedeutung", erklärte Umweltminister Christian Meyer (Grüne) die Erhöhung des Budgets um 17,2 Millionen Euro, das über Jahrzehnte eingefroren schien. Meyer spricht denn auch nicht von Seedeich, sondern von "Klimavorsorgedeich". Laut Umweltministerium in Hannover müssen die Deiche entlang der Küste im Schnitt um zwei Meter erhöht werden. Blumen wird es dort allerdings vorerst nicht geben, mal abgesehen von den Unkräutern, die es sowieso durch die Grasnarbe schaffen.
"Flower Power" entlang der Flussdeiche aber gibt es schon in Niedersachsen – zum Beispiel an der Ochtum, an der Hunte und an der Weser. Dort experimentiert der erste Oldenburgische Deichverband bereits seit vier, fünf Jahren mit Gräsern und Kräutern. An Ochtum, Hunte und Weser wachsen also bereits Schafgarbe, Wiesenschaumkraut, Sauerampfer, Löwenzahn und Margerite auf einer Strecke von insgesamt sieben Kilometern. Die Gräser sollen die Oberfläche zusammenhalten und die Kräuter Halt in der Tiefe geben.
Deichvorsteher Cord Hartjen ist überzeugt von der neuen Saat, die eigentlich eine alte ist. Die sogenannte Regio-Saat hat seinen Angaben zufolge 30 Prozent Kräuter und 70 Prozent Gräser – so wie früher. Das mache die Deichdecke dichter und die Schafe gesünder. Anders als bei den neuen, hochgezüchteten Sorten profitierten davon auch die Bienen. "Wir arbeiten noch an der perfekten Mischung, aber der Erfolg gibt uns schon heute recht." Allerdings, so Hartjen, sei die Regio-Saat auch teurer, dafür werde sie aber vom Land Niedersachsen gefördert. Für die Zukunft jedenfalls setzt der Oldenburgische Deichverband überall dort, wo die Deiche erneuert werden müssen, auf die bunte Vielfalt. Und wer weiß, vielleicht kommen die Niederländer am Ende zum selben Ergebnis.