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Interview mit Professor für Volkswirtschaftslehre „Die Lebensqualität hat sich in den vergangenen 50 Jahren beständig verbessert“

Alle Indikatoren für Lebensqualität haben sich in den vergangenen 50 Jahren verbessert, so Stephan Klasen. Im Interview spricht der Professor für Volkswirtschaftslehre über die Auswirkungen der Globalisierung und Rückschläge in der globalen Entwicklung.
23.09.2016, 00:00 Uhr
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„Die Lebensqualität hat sich in den vergangenen 50 Jahren beständig verbessert“
Von Norbert Pfeifer

Alle Indikatoren für Lebensqualität haben sich in den vergangenen 50 Jahren verbessert, so Stephan Klasen. Im Interview spricht der Professor für Volkswirtschaftslehre über die Auswirkungen der Globalisierung und Rückschläge in der globalen Entwicklung.

Herr Klasen, steht die Welt als Ganzes aktuell vielleicht besser da, als viele Menschen wahrhaben ?

Stephan Klasen: Fast alle Indikatoren für Lebensqualität haben sich in den vergangenen 50 Jahren beständig verbessert – sei es die Säuglingssterblichkeit, die Lebenserwartung, die Luftqualität oder das Bruttosozialprodukt pro Kopf. Blicken wir 200 Jahre zurück, ist die Entwicklung noch viel dramatischer. Unsere Kinder wachsen in einer Welt auf, in der sie erwarten können, mehr als 80 Jahre alt zu werden, eine gute Bildung zu bekommen und ein sicheres Einkommen zu erarbeiten.

Betrifft das nur Inseln des Wohlstands oder ist es ein weltweiter Trend?

Vor 20 Jahren wäre das Bild deutlich differenzierter gewesen. Von 1995 bis 2015 hat es fast überall erhebliches Wirtschaftswachstum gegeben, eine Verlängerung der Lebenserwartung und ein Mehr an Gesundheit und Bildung. Wir hatten ein sehr hohes Wachstum in Schwellenländern wie China, Indien, Brasilien oder Südostasien. Die haben mit ihrer großen Nachfrage nach Rohstoffen viele andere Länder zum Beispiel in Afrika mit hochgezogen. Außerdem hat sich das Wissen über Bildung und Gesundheit weltweit verbreitet. Heute weiß jede Krankenschwester noch im letzten Dorf, wie man Durchfall verhindert. Das ist ein enormer Fortschritt. Natürlich gibt es auch dramatische Ausnahmen: Syrien, Afghanistan, Eritrea, Nordkorea. Die Nachrichten von dort sind ja bekannt.

Würden Sie sagen, die Globalisierung wirkt sich eher positiv oder negativ auf Entwicklungsländer aus?

Insgesamt hat die Globalisierung mehr Chancen gebracht – vor allem für die Länder mit exportorientierter Wirtschaft. Das gilt zum Beispiel für Länder in Asien, die uns heute mit verarbeiteten Gütern wie Textilien, Spielzeug oder Autos beliefern. Das wäre ohne die Liberalisierung des Handels in den verganenen 40 Jahren unmöglich gewesen. Die Globalisierung der Finanzmärkte hat dagegen keinem geholfen. Dadurch kommt es vor allem in den Schwellenländern heute schneller zu Finanzkrisen und allen möglichen Verwerfungen.

In welchen Bereichen gibt es Rückschläge in der globalen Entwicklung?

In Deutschland, Griechenland oder den USA verdienen die ärmsten 20 Prozent heute genauso wenig wie vor 20 Jahren, während die Wohlhabenderen deutlich mehr bekommen. Außerdem wurden einfache Jobs eher ins Ausland verlagert. Trotzdem hat sich auch in diesen Schichten die Lebenssituation insgesamt verbessert: Sie leben länger, gesunder und besser gebildet.

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Die derzeitige Flüchtlingswelle erweckt den Eindruck, wir lebten in Europa in einer einzigartigen Wohlstandsblase. Aber geht es Menschen jenseits der Bürgerkriegsländer tatsächlich schlechter als früher oder ist die Abwanderung für sie in der heutigen Zeit schlicht einfacher?

Vermehrte Emigration vor allem aus Afrika ist keineswegs eine Folge größerer Armut. Einerseits leben dort heute schlicht mehr Menschen als vor 20 Jahren. Damit kommen auch mehr zu uns. Außerdem machen Netzwerkeffekte die Emigration einfacher. In Europa leben schon Menschen aus Afrika oder dem Nahen Osten, auf die Flüchtlinge zurückgreifen können. Insgesamt ist die Zahl tatsächlicher Wirtschaftsflüchtlinge trotzdem sehr gering. In Nigeria leben cirka 176 Millionen Menschen. Nur ein paar Tausende davon kommen jedes Jahr nach Europa. Das heißt aber auch: Fast alle bleiben dort.

Kommen positive Meldungen aus Sicht des Entwicklungsökonomen zu kurz?

Ganz eindeutig. Insbesondere ist völlig untergegangen, wie gut sich Afrika im jüngsten Jahrzehnt entwickelt hat. Die Länder dort sind durchweg schneller gewachsen als die Weltwirtschaft insgesamt. Die Sterblichkeit hat sich verringert. Malaria und HIV wurden eingedämmt und eine Reihe schwerer Konflikte wurden beigelegt. Natürlich darf man die Problemherde gerade in den Sahel-Staaten nicht leugnen. Aber nehmen Sie als Gegenbeispiel Indien: Vor 20 Jahren wurde von dort nur über die Slums in Kalkutta berichtet, in denen Mutter Teresa Gutes tat. Heute gilt Indien als boomendes Schwellenland und High-Tech-Atommacht, mit der wir Wirtschaftsdeals anstreben. Über die offensichtlich riesige wirtschaftliche Entwicklung in der Zwischenzeit wurde fast nie berichtet.

Manche Hilfsorganisationen betonen in ihren Spendenschreiben, die vor Weihnachten wieder versandt werden vor allem das Elend. Ist das ein sinnvoller Ansatz?

Darüber bin ich auch unglücklich. Diese Botschaften suggerieren, es hätte sich nichts geändert beziehungsweise vieles verschlechtert. Das wird der Lage nicht gerecht.

Gebührt den Entwicklungsländern mehr Respekt statt Mitleid für ihre Leistungen?

Auch in der Vergangenheit waren die wenigsten Länder wirklich abhängig von fremder Hilfe. Heute ist Entwicklungshilfe für die allermeisten Länder völlig irrelevant. Es würde den Beziehungen sehr guttun, auf Augenhöhe miteinander umzugehen.

Die Fragen stellte Martin Wein.

Zur Person

Zur Person:
Stephan Klasen ist seit 2003 Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Entwicklungsökonomik an der Universität Göttingen. Gleichzeitig ist er Direktor des Ibero-America Instituts für Wirtschaftsforschung.
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