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Krisenstimmung Wie man eine Vielzahl schlechter Nachrichten besser verdauen kann

Es gab schon bessere Zeiten, und offenbar gibt es mehr und mehr Bürger, die die Nachrichten nicht mehr verfolgen, um nicht depressiv zu werden. Ist das der richtige Weg? Ein Essay.
18.12.2022, 09:45 Uhr
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Wie man eine Vielzahl schlechter Nachrichten besser verdauen kann
Von Silke Hellwig

Keine Frage, es gab schon bessere Zeiten, rosigere Aussichten, mehr Anlass zur Zuversicht. Diverse Krisen scheinen sich gerade zur Großkrise zu türmen: In der Ukraine herrscht Krieg, die Lebenshaltungskosten sind hoch, es fehlt an Gas und anderen Rohstoffen. Vielerorts ist das Krankenhauspersonal überlastet, Fachkräfte fehlen. Retter haben in dieser Woche den Notstand ausgerufen. „Reichsbürger“ planten den Umsturz. Die EU ist von einem Korruptionsskandal erschüttert, Menschen schießen um sich, Teenager prügeln auf Gleichaltrige ein. Bürgerkrieg im Jemen, Hungersnot südlich der Sahara und, und, und. Ach, ach, ach.

Es geschehen nicht nur Dinge, die furchtbar, beängstigend oder schwer einzuschätzen sind und daher verunsichern, sondern sie verbreiten sich auch rasant. Dies geschieht nicht nur durch professionelle Nachrichtendienste selbst, sondern insbesondere auch durch Konsumenten. Offizielle Berichte, auch private Fotografien und Videos von Unfällen und Überfällen, durchsetzt mit Falschnachrichten, Gerüchten und Übertreibungen aller Art werden geteilt und verbreiten sich im Netz wie ein Tsunami.

Wie soll man das verkraften? Wie sich noch aus dem Haus trauen? Was bildet das Gegengewicht? Der Frieden im eigenen Kosmos? Der Blick auf den Mond, der schon so viel gesehen hat und sich ungerührt weiterdreht? Offenbar reicht das manchen Bürgern nicht. „Ich schaue keine Nachrichten mehr, ich kann es nicht mehr ertragen. Wenn also etwas Schönes passiert, pingt mich kurz an“, schreibt „Mr. Crowley“ auf Twitter. 

„Schlechte Laune und Erschöpfung“

"Mr. Crowleys" Bekenntnis zu einer Vogel-Strauß-Taktik ist kein Einzelfall. Im Juni dieses Jahres stellen Autoren des Hans-Bredow-Instituts fest: „Die Deutschen sind nachrichtenmüde“. Das Interesse an Nachrichten sei „deutlich gesunken“, 57 Prozent der Internetnutzer interessierten sich für das aktuelle Geschehen, zehn Prozentpunkte weniger als im Vorjahr. Unter den 18- bis 24-Jährigen bekundeten 31 Prozent Interesse für Nachrichten. Das entspreche einem Minus von 19 Prozentpunkten. Der Anteil derer, die zumindest gelegentlich versuchen, Nachrichten aus dem Weg zu gehen, liege bei 65 Prozent, heißt es in der Studie „Reuters Institute Digital News Report 2022“. Und weiter: „Themenmüdigkeit, das Hervorrufen schlechter Laune und Erschöpfung aufgrund der Vielzahl an Informationen sind die Hauptgründe hierfür.“

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Das Bonn Institute hat just ähnliche Zahlen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine veröffentlicht: "Fast alle Befragten berichten von psychischem Belastungserleben und einer sie belastenden Hilflosigkeit, insbesondere beim Anblick von Kriegsbildern (...) Viele Befragte haben ihren Nachrichtenkonsum bewusst eingeschränkt."

Ist das ein Ausweg? Die Augen verschließen, weil man selbst wenig Einfluss hat auf das, was einen besorgt oder deprimiert? Psychiater Mazda Adli erläutert im „Deutschlandfunk“: „Das, was richtig Stress macht, ist die Masse an Echtzeit-Schlagzeilen, Newstickern oder auch das Phänomen, dass wir zunehmend Nachrichten über Bilder und ohne Text entgegennehmen.“ Vor allem Bilder wirkten, da sie unmittelbar Emotionen bei ihren Betrachtern erzeugten. Aufbereitete Nachrichten seien bekömmlicher, so Adli im „Deutschlandfunk“ weiter. Auch Psychologin Jodie Jackson rät: „Wenn man sich informieren will, dann nicht über Social Media, sondern lieber einmal am Tag bei einem verlässlichen Medium, das Informationen kuratiert und einordnet. Man sollte sich auch fragen: Muss man wirklich alles sofort wissen? Die Welt ändert sich nicht so schnell so sehr.“

In der Flut von Nachrichten, die im Sekundentakt auf alle einprasseln, die von ihrem Smartphone gefesselt sind, finden sich auch gute. Doch es ist das Negative, das haften bleibt. Der „Tagesspiegel“ berichtet 2019 über die Studie eines Kommunikationswissenschaftlers von der Universität Michigan in Ann Arbor. Er und sein Team setzten 1156 Probanden aus sechs Kontinenten vor den Fernseher, ihre Finger waren mit Sensoren verbunden worden, um die Leitfähigkeit der Haut und die Herzfrequenz zu messen, berichtet der „Tagesspiegel“ weiter. Vorgeführt wurden sieben Filmbeiträge des Fernsehsenders BBC World News. Einer zeigte, wie Gorillas aus dem Zoo in die Wildnis entlassen wurden, in einem anderen brannte eine Stadt in Peru nieder.

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Das Ergebnis der Tests, man ahnt es: Negative Informationen wurden aufmerksamer verfolgt. „Diese Studie zeigt direkt, dass Menschen auf der ganzen Welt durch negative Nachrichtenbeiträge stärker aktiviert werden.“ Die Gründe liegen auf der Hand, sie resultieren aus dem menschlichen Überlebensinstinkt. Wer sieht, dass Flammen in einer Stadt wüten, muss sich sozusagen vergewissern, ob es Anlass gibt, Vorkehrungen zu treffen und sich selbst in Sicherheit zu bringen. 

Für den ungebremsten Konsum von negativen Berichten gibt es einen Begriff: „Doomscrolling“. Doom heißt Verderben, unter Scrollen versteht man das ziel- und endlose Herumstreifen im Internet. Die US-amerikanische Psychologin Jodie Jackson erläuterte gegenüber „Zeit Campus“: „Die Nachrichten und Videos fühlen sich wie eine unmittelbare Bedrohung an. Man bekommt Angst, will mehr über die Bedrohung wissen, um sie vermeiden zu können. Das wird aber ein sich selbst verstärkender Strudel: Man klickt weitere Videos an und bekommt immer mehr Angst.“ Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia erinnert an ein Phänomen aus den 1970er-Jahren, das „Gemeine-Welt-Syndrom“. Der Medienpsychologe Georg Gerbner untersuchte, welche Folgen der übermäßige Konsum von Gewaltdarstellungen im Fernsehen hat. Er kam zu dem Schluss, dass die Konsumenten ihre Umgebung für gefährlicher hielten, als sie nachweislich ist.

„Aktenzeichen XY ... ungelöst“

Warum schaut man „Aktenzeichen XY ... ungelöst“, dem niemals der Stoff ausgehen wird? Um wertvolle Hinweise geben zu können? Oder um abzuschätzen, ob einem selbst Ähnliches widerfahren könnte? Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ stellt fest: „Sicherlich überbietet jede amerikanische Serie „Aktenzeichen“ an dramaturgischer Finesse. Aber die Fiktion transportiert nie jenen Schauer, den nur die reale Welt hinbekommt. Der Räuber aus dem Einspieler, der seine wehrlosen Opfer gerade mit den Worten ,einfach ruhig, dann wird euch nix passieren‘ mehr schlecht als recht besänftigt, könnte sich, während man arglos auf dem Sofa fläzt, bereits hinter einem an der Terrassentür zu schaffen machen. Einen Schutz dagegen gibt es in dieser prinzipiell unbehausten Welt nicht.“

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Der schwedische Gesundheitsforscher Hans Rosling (1948 -2017) hinterließ ein Buch mit dem Titel „Factfulness“ (Sachlichkeit) – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.“ Es ist dazu gedacht, eine „überdramatisierte“ Weltsicht zu korrigieren und diffuse Ängste einzuhegen. „Das Bild einer gefährlichen Welt wurde noch nie so effektiv verbreitet wie jetzt, während die Welt nie weniger gewalttätig und sicherer war“, schreibt Rosling. Sein Buch sei eine Art Fakten-Therapie. „Es geht darum, eine klare und vernünftige Vorstellung davon zu haben, wie die Dinge sind. Es bedeutet, eine Weltanschauung zu haben, die konstruktiv und nützlich ist.“

Die Welt ist schlecht? Die Menschen, die sie bevölkern? Vermutlich sind sie nicht schlechter als Adam und Eva. Konflikte und Krisen hat es immer gegeben, aber nicht immer hat jeder und jede im letzten Winkel der Welt davon erfahren. Nicht sehen zu wollen, wie somalische Kinder hungern oder wie tapfer die Menschen in Kiew ohne Strom und Wasser ausharren, verbessert ihre Lage nicht. Das Wissen darum auch nicht, aber: Wissen relativiert, Wissen schützt – bestenfalls: Wissen aktiviert.

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