Was braucht der Mensch? Grob betrachtet nicht allzu viel: Sauerstoff, Wasser, Licht, bestenfalls gesunde Lebensmittel, Kleidung, medizinische Versorgung. Um nicht zu verkümmern, auch Gesellschaft, Zuspruch, geistige Nahrung. Schon bei dieser Aufzählung tun sich Fragen auf – nach der Menge. Wie viel ist genug? Was ist zu viel? Was braucht der Mensch zum Glücklichsein? Vermutlich etwas mehr als nur das unbedingt Nötige, um daraus schöpfen zu können, um Auswahl zu haben.
Man kann davon ausgehen, dass die meisten Mitteleuropäer von allem deutlich mehr haben als genug. Dazu muss man nicht immer und immer wieder auf die Tonnen von Lebensmitteln verweisen, die Jahr für Jahr vernichtet und verschwendet werden. Beim Erzeuger, weil sie dem Gardemaß nicht entsprechen, auf dem Weg zum Verbraucher und beim Verbraucher selbst. Auch ein Blick in die Vergangenheit rückt Ansprüche zurecht, beispielsweise in Ausgaben dieser Zeitung aus dem September 1946: „Schwerkriegsbeschädigter, alles verlor., sucht Anzug u. Wäsche. Gr. 1,65 m.“ oder „Anz. u. Mantel, Gr. 1,78, v. heimatl. entl, Soldat, dringend ges. (...)“ oder „1 P. H.-Schuhe, g. erh., gegen 1. Schlauchbereifung f. H.-Fahrrad“. Aber auch: „Reparaturen an Unterwäsche, Sport- u. Oberhemden werden wieder angenommen.“
Reparaturen an Unterwäsche? Das mag hier und da auch heute noch geschehen, häufig aber werden schadhafte Wäschestücke und Strümpfe bestenfalls zu Schuhputzlappen oder gleich weggeworfen. Die Wäsche wird ersetzt, zumal wenn es sich um Billigware handelt, im Supersparpack und Discounter erworben. Wenn ein Ersatz überhaupt nötig ist, viele Menschen haben vermutlich mehr Unterhemden als die Woche Tage.
3000 Paar Schuhe
Selbstverständlich sind die schweren Kriegsjahre und die nicht minder harten Monate danach kein Maßstab für das Jahr 2022, geprägt von vielen Jahrzehnten des Wachstums, des Wohlstands, des sich Einrichtens auf hohem Niveau. Zumal Luxus, Komfort aller Art und Verschwendung keine Erfindung des 21. Jahrhunderts sind. Römische Kaiser lebten in Saus und Braus, Prunk und Glanz, Königshäuser und Geschäftsleute machen oder machten mit sagenhaftem Reichtum und entsprechenden Ausschweifungen von sich reden. Krösus, Caligula, König Ludwig II, Adnan Khashoggi und John D. Rockefeller, Jeff Bezos, Elon Musk und Kim Kardashian. Imelda Markos, Witwe des tyrannischen philippinischen Präsidenten Ferdinand Marcos, soll nach ihrer Flucht im Palast an die 900 Handtaschen und mehr als 3000 Paar Schuhe hinterlassen haben.
Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete über den „Wegwerfberater“ Clemens Neuhauser. „Wer drei Sektkühler besitzt, obwohl er nie einen benutzt, kann das nur schwer erklären (...). Der Mensch bunkert aus Angst vor Mangel.“ Diese Überlebensstrategie funktionierte 7600 Generationen lang, hat Neuhauser errechnet. „Erst seit zwei Generationen leben wir in anhaltendem Überfluss. Wir haben nie gelernt, damit umzugehen“, sagt Neuhauser.“
Manche können es. Sie ersetzen ihr Hab und Gut nur, wenn es nicht mehr zu retten ist. Das können Kleidungsstücke sein und Schuhe, aber auch Möbel oder Geräte. Das sind oft zum einen ältere Menschen, die es nicht anders kennen und immun sind gegen die Verlockungen der schönen neuen Warenwelt. Aber es sind auch Jüngere, die bewusst dem übermäßigen Konsum entsagen. Im Internet finden sich zahlreiche Erfahrungsberichte über bewussten Verzicht. Es gibt Checklisten, die den Weg zum materiellen Entschlacken weisen. Die Journalistin Meike Winnemuth trug ein Jahr lang dasselbe Kleid (in dreifacher Ausführung vorhanden, um es waschen zu können) und berichtete in Buchform.
Unvergessen ist die Religionswissenschaftlerin Uta Ranke-Heinemann (1927 - 2021), die in einem Lederkostüm von sich reden machte. Der Schriftsteller Philipp Tingler berichtete im schweizerischen „Tages-Anzeiger“: „Ihr Kostüm ist eine Rüstung, ein Markenzeichen, es ist berühmt in Deutschland, berühmter noch als der kanariengelbe Pullunder von Hans Dietrich Genscher oder Helmut Kohls Strickjacke. Genauer: Es ist notorisch. Frau Ranke-Heinemann hat es seit jeher immer an, bei jedem Auftritt, jeder Debatte, jedem Kampf gegen Dogmen und Doktrinen (... ). Ich finde es großartig und famos, dass in unseren überstilisierten Zeiten jemand beharrlich ein Garderobenkonzept an den Tag legt, das wir sonst nur noch von Cartoonfiguren und Diktatoren kennen und das vielen selbst ernannten Geschmack-Experten und Internetdandys ganz furchtbar vorkommt: immer dasselbe anzuhaben. Oder das Gleiche, wie Sie wollen. Und das bringt uns auf die Frage: Wie viele Anziehsachen braucht eigentlich der Mensch?“

Uta Ranke-Heinemann trug in der Öffentlichkeit gerne ein türkisblaues Lederkostüm.
Viele braucht er nicht: etwas Warmes und etwas Leichtes, genug zum Wechseln, um nicht zu oft waschen zu müssen (womit sich ein weiterer Punkt verbindet: Muss man jedes T-Shirt waschen, wenn man es einmal getragen oder es einen einzigen Fleck hat?), festes Schuhwerk, warmes auch, Kleidung, die etwas aushalten kann, aber auch festliche, der Sonntagsstaat sozusagen. Das hat Tradition: Zu vielen Trachten zählt seit Jahrhunderten neben Kleidungsstücken für den Alltag eine besondere Ausstattung für Festtage. Auch Modefragen sind Triebfeder von Konsum. Mit der Mode zu gehen, ist verzichtbar, wenn es hart auf hart kommt, keine Frage. Aber wie der Deutsche Kulturrat verlautet: „Mode ist eine Form des kulturellen Daseins. Sie ist Sprach- und Ausdrucksform sowie kulturelle Teilhabe.“
Zweifellos kann jede und jeder auf das eine oder andere verzichten, ohne sich sonderlich anzustrengen oder gar zu quälen. Doch was geschieht, wenn sich die sogenannte Konsumlaune nachhaltig eintrübt oder dauerhaft sinkt? Welche Folgen könnte Verzicht für die Volkswirtschaft haben, wenn er sich zu einem Massenphänomen entwickelte? „Wir haben von Kindheit an erfahren, dass es für alle unsere Wünsche ein Produkt gibt und dass es ok ist, Dinge zu kaufen – das sei nun mal die Art, auf die unsere Wirtschaft funktioniere”, sagt Sabrina Helm von der University of Arizona gegenüber Natur.de.
Tatsächlich gebe es keinen Anlass zur Sorge (und keine Basis für eine willkommene Ausrede), sagt Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel, schon gar nicht, wenn es um den Verzicht auf Massenartikel gehe, die teilweise unter fragwürdigen Arbeitsbedingungen hergestellt werden. „Verzicht auf den durch Werbekampagnen getriebenen Massenkonsum schafft Spielraum für eine alternative Nutzung frei werdender ökonomischer Ressourcen – auch knapper Rohstoffe – etwa für Gemeinschaftsgüter und den ökologischen Umbau“, sagt Hickel. „Insoweit löst Verzicht nicht eine Chaosökonomie aus, sondern macht eine neue Antwort auf die Frage möglich, für wen und wie sinnvoll produziert werden kann.“
Eine Nummer kleiner
Was braucht der Mensch? Meist weniger als er denkt, gewiss viel weniger als er hat. „Mit zwei Ohren hörst du nicht doppelt“ besagt ein Sprichwort. „Gern wird verdrängt: Ein scheinbar grenzenloses Warenangebot, Lieferservice rund um die Uhr, das alles sind Phänomene der vergangenen zehn, höchstens zwanzig Jahre“, stellt Silvia Liebrich in der „Süddeutschen Zeitung“ fest. Unbedachter Konsum muss nicht in betonten Minimalismus umschlagen. Aber es kann – im übertragenen Sinne – schon mal eine Nummer kleiner sein, der Kauf etwas überlegter, die Qualität höher, die Ware langlebiger. Billige Weihnachtspullis? Braucht kein Mensch.