Ruth Westheimer: Sex! Ich habe in letzter Zeit so viel über den Holocaust gesprochen.
Okay, über Sex! Wie hat man guten Sex?Dazu muss man einfach nur meine Bücher lesen. (Lacht). Mein Buch „Sex für Dummies“ ist gerade in der vierten Auflage erschienen. Das gibt es auch auf Deutsch. Wer es gelesen hat, weiß, was man wissen muss.
Manche Leser werden aber vor dem nächsten Sex keine Zeit haben, das ganze Buch zu lesen...Wer guten Sex haben will, wird ja wohl bereit sein, ein Buch zu lesen. Nächste Frage.
Es ist noch mal dieselbe Frage: Wie hat man guten Sex?Ok, Du bist hartnäckig! (Seufzt.) Für guten Sex braucht man eine gute Beziehung. Sex sollte man nicht nur mal eben schnell am Abend abhaken, damit man befriedigt ist. Man sollte sich daran erfreuen, dass man in einer Beziehung ist. Und diese Beziehung muss man pflegen. Dazu muss man zusammen schöne Dinge tun: einen Film gucken, spazieren gehen, skifahren – irgendwas Schönes. Man muss ich für die Beziehung Zeit nehmen, sich für den Partner interessieren. Wenn man sich langweilt, ist es das Ende einer jeden Beziehung. Wenn man trotz einer guten Beziehung keinen guten Sex hat, kann es körperliche oder psychische Gründe haben. Dann muss man zum Arzt oder zum Therapeuten. Diese Probleme lösen sich nicht in Luft auf, wenn man nichts tut.
Wie oft sollte man Sex haben?Blöde Frage. Das kann man so pauschal nicht beantworten. Das kommt darauf an, was sonst noch im Leben und im Kopf los ist. Sorgen um den Job, die Kinder oder die Zukunft können die Lust bremsen. Niemand soll sich davon unter Druck setzen lassen, dass man gefälligst so und so oft Sex haben sollte.
Und wenn man keine Lust auf Sex hat? Ist das schlimm?Ja, das ist schlimm! Es gibt keine gute Beziehung ohne Sex. Denn wenn man nicht die Energie für Sex hat, hat das einen Grund. Es ist das Symptom dafür, dass etwas kaputt ist. Den Grund muss man finden und ihn beheben, denn ansonsten geht jede Beziehung endgültig kaputt.
Muss man mit seinem Partner über alles sprechen?Nein! Vor allem nicht über die Vergangenheit. Man sollte nie sagen: Mein letzter Partner war viel besser im Bett als Du. (Lacht). Wenn es so war: lieber den Mund halten.
Wie hat man im Alter noch guten Sex?Auch darüber habe ich ein Buch geschrieben. Sex after 50. Bitte lesen!
Vielleicht können Sie auch hier die wichtigsten Tipps für diejenigen geben, die nicht das ganze Buch lesen wollen.Okay. (Seufzt.) Menschen über 50 sollten nicht abends, sondern morgens Sex haben. Dann ist der Testosteronspiegel des Mannes höher, und es fällt ihm leichter, eine Erektion zu bekommen und zu halten. Und der Mythos, dass Frauen in der Früh keinen Sex wollen, ist Quatsch. Darum: aufstehen, ins Bad gehen, ein kleines Frühstück nehmen und zurück ins Bett.
Gibt es eine Altersobergrenze für Sex?Nein, aber man muss realistisch sein. Männer müssen wissen, dass sie zwischen dem Sex größere Pausen brauchen und dass ihre Ejakulation schwächer wird. Frauen müssen wissen, dass der Orgasmus weniger intensiv wird.
Sie waren dreimal verheiratet. Braucht man verschiedene Partner, um guten Sex zu haben?Nein. Quatsch! Man kann schon beim ersten Partner Glück haben. Nächste Frage!
Ist es in Ordnung, zu einer Prostituierten zu gehen?Absolut! Aber es ist traurig, wenn Prostitution in der Illegalität stattfinden muss. Ich möchte, dass Prostitution überall legalisiert wird, denn es wird sie ohnehin immer geben. Und natürlich soll es auch Männer geben, die für Frauen da sind. Alle Sexworker sollten medizinisch betreut und untersucht werden.
Sie reden seit 40 Jahren über Sex. Stellen die Anrufer eigentlich seit Jahrzehnten immer wieder die gleichen Fragen?Gute Frage! Die Antwort ist: Die Fragen haben sich kaum geändert. Frauen fragen immer noch, wie sie zum Orgasmus kommen können, Männer fragen immer noch, wie sie einen vorzeitigen Orgasmus vermeiden können und ob man einen großen Penis braucht, um eine Frau zu befriedigen. Aber was sich geändert hat, ist die Sprache. Man spricht heute viel expliziter über Erektion, Masturbation und Orgasmus.
Die Leute erzählen Ihnen alles, Sie erzählen nichts. Warum?Daran hatte ich nie ein Interesse. Nächste Frage!
Dabei – das haben Sie selbst gesagt – können Juden besonders gut über Sex sprechen können. Warum ist das so?Weil in der jüdischen Tradition Sex nie eine Sünde war. Im Gegenteil: Es gibt sogar die Verpflichtung des Ehemannes, seine Frau zu befriedigen. Dass ich deshalb immer offen über Sex sprechen konnte, hat mir auch bei meiner Karriere geholfen.
Ich finde es sehr schlimm, was jetzt passiert. Wohin man geht, laufen Frauen mit Dekolletes rum. Ich finde, dass Frauen wissen müssen, wann und wo ein Dekollete in Ordnung ist. Im Büro finde ich es ganz schlimm, denn das suggeriert Männern auf jeden Fall, dass es in Ordnung ist, eine sexuelle Anspielung zu machen. Aber wenn das passiert, dann heißt es gleich, dass es eine sexuelle Belästigung war. Ich habe nichts gegen Nacktschwimmen und Nacktstrände. Ich habe auch nichts dagegen, sich am Körper zu erfreuen, aber ich habe etwas dagegen, wenn Frauen im Büro ein zu tiefes Dekolletee haben und wenn die Hosen beim Mann so eng sind, dass man die Form des Penis sehen kann.
Nicht nur Anhängerinnen und Anhänger der MeToo-Bewegung würden Ihnen hier entschieden widersprechen.MeToo ist nicht so mein Ding. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich old-fashioned bin. Schreib das auf: Old-fashioned! Altmodisch! (Lacht). In unserer Gesellschaft ist und soll Sex etwas Privates bleiben. Ich glaube immer noch daran, dass ein Mann und eine Frau, oder zwei Männer oder zwei Frauen sich ehren, lieben und sich aneinander erfreuen müssen. Auch als es in Mode war, habe ich nie gesagt: Jetzt geht alles, jetzt ist Gruppensex in Ordnung.
Lassen Sie uns über das zweite große Thema sprechen, das Ihr Leben bestimmt hat: den Holocaust. Ihre Eltern starben in Auschwitz.Und wäre ich 1938 nicht mit einem Kindertransport von Deutschland in die Schweiz gekommen, wäre ich jetzt auch tot. Deshalb habe ich eine Verpflichtung, darüber zu sprechen, wie dankbar ich der Schweiz bin. Mir ist es sehr wichtig, dass auch nachfolgende Generationen über den Holocaust Bescheid wissen. Darum habe ich für Schüler das Buch „Roller-Coaster Grandma“ (Die Achterbahn-Oma) geschrieben. Darin spreche ich zwar nicht direkt über Auschwitz, aber sehr wohl darüber, dass mein Vater von den Nazis geholt worden ist. Jetzt soll dieses Buch von Steven Spielbergs Shoa Foundation animiert und an Junior Highschools in Amerika und Kanada gezeigt werden. Das freut mich sehr. So soll über den Holocaust gelehrt werden, ohne Angst zu machen. Der Film soll klarmachen, dass man Menschen so akzeptiert, wie sie sind. Egal ob sie Juden, Homosexuelle oder Zigeuner sind.
Sie sind ein Einzelkind. Nicht nur Ihre Eltern, auch die meisten Ihrer Familienmitglieder haben den Holocaust nicht überlebt. Hat Hitler gewonnen?Nein! Hitler ist tot, und meine vier Enkel sind fantastisch.
Wie hat der frühe Verlust Ihrer Eltern Ihr Leben geprägt?So ein Trauma kann man nicht überwinden. Die Wunde bleibt immer. Das muss man akzeptieren. Ich habe alle meine Bücher meinen Eltern und meiner Großmutter gewidmet. Ich habe viele Puppenhäuser. Ich gucke sie gerne an. Ich kann Vater, Mutter und Kinder zusammen in ein Zimmer setzen. Bei Puppenhäusern habe ich alles unter Kontrolle. Über mein eigenes frühes Leben hatte ich keine Kontrolle. Aber dass ich später als Sexualtherapeutin so vielen Menschen helfen konnte, zeigt mir, dass es wunderbar und richtig war, dass ich überlebt habe.
Als Sie nach Ende des Krieges ganz allein waren, sind Sie als 17-Jährige nach Palästina gegangen und haben sich der Hagana, einer paramilitärischen jüdischen Untergrundgruppe, angeschlossen. Warum?1948 hat sich fast jeder junge Jude, der damals in Palästina war, irgendeiner militärischen Gruppe angeschlossen, um den jungen Staat Israel zu verteidigen. Ich wurde zur Scharfschützin ausgebildet. Und Du musst aufpassen: Ich kann immer noch eine Maschinenpistole zusammenbauen, Handgranaten werfen und schießen. Ich war eine sehr gute Scharfschützin. Also, pass auf, was Du mich fragst!
Trotz des Holocausts haben Sie 2014 wieder die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Warum?Das ist mir nicht leichtgefallen. Aber ich habe kein Problem mit Deutschen, die zu jung waren, um am Krieg teilzunehmen. Ich werde Dich aber nicht fragen, was Deine Großväter während des Krieges gemacht haben. Adenauer hingegen bin ich sehr dankbar. Er hat viel Geld nach Palästina geschickt. Zudem sehe ich jedes Jahr junge deutsche Männer und Frauen, die einen Sommer oder ein ganzes Jahr in israelischen Altenheimen arbeiten. Das freut mich sehr! Sie wollen etwas zur Wiedergutmachung tun. Dass ich die Staatsbürgerschaft wieder angenommen habe, hat auch pragmatische Gründe. Meine Kinder und meine Enkelkinder – die zwar alle kein Deutsch können – sollen die Möglichkeit haben, in Deutschland arbeiten und studieren zu können. Die Welt soll für sie offen sein. Da kann es nicht schaden, dass ich die deutsche Staatsbürgerschaft habe.
Ihre Karriere im amerikanischen Radio und Fernsehen haben Sie möglicherweise nicht trotz, sondern wegen Ihres unverkennbaren hessischen Akzentes gemacht.Er hat zumindest nicht geschadet. Sobald man das Radio anschaltete, wusste man sofort, dass ich es bin.
Sie sind 92 Jahre alt, gehören damit während der Corona-Zeit zur Hochrisiko-Gruppe. Wie gehen Sie mit der Gefahr um?Corona hat mein Leben stark verändert. Vor Corona bin ich sehr viel unterwegs gewesen, bin viel ausgegangen und habe sehr viele Menschen getroffen. Aber mit meinen 92 Jahren gehöre ich jetzt zu den „endangered species“, den bedrohten Arten. Deshalb bin ich sehr vorsichtig. Ich treffe nur noch meine Familienmitglieder. Aber ich bin nicht einsam, da ich jetzt sehr viel Zeit am Telefon verbringe. Zum Glück liebe ich meine Wohnung, von der ich einen sehr schönen Blick auf den Hudson habe. Am Wochenende bin ich oft mit meiner Familie auf dem Land. Ich bin nicht leichtsinnig, aber ich habe auch keine Angst. Ich bin Optimistin. Natürlich ist es schlimm, wie viele Menschen ihr Leben und ihre Jobs verloren haben. Aber auch Corona wird irgendwann vorbeigehen. Ich denke, New York hat das Schlimmste hinter sich, zumindest wenn die Leute vorsichtig bleiben.
Wird Corona unser Sexleben beeinflussen?
Die Frage kann noch nicht wissenschaftlich fundiert beantwortet werden, aber ich denke, eines kann man bereits jetzt sagen: Gute Beziehungen werden diese schwere Zeit überleben, schlechte Beziehungen nicht.
Große Dankbarkeit, dass ich am Leben bin. Ich würde alles wieder genauso machen.
Wären Ihre Eltern stolz auf Sie?Ich weiß nicht, ob sie stolz darauf wären, dass ich so viel über Sex rede. Vielleicht müsste ich ihnen erst erklären, dass es in der jüdischen Tradition keine Sünde ist, über Sex zu sprechen.
Das Gespräch führte Philipp Hedemann.Ruth Westheimer (92)
wurde im Juni 1928 als Kind jüdisch-orthodoxer Eltern in Karlstadt am Main geboren. Im Alter von zehn Jahren flüchtete sie in die Schweiz, kam später über Israel in die USA, wo sie seit 1980 im Radio und im TV Ratschläge für guten Sex gibt. Jetzt ist der Dokumentarfilm „Fragen Sie Dr. Ruth“ in den Kinos angelaufen.